ROSSOFFENSIVE FÜR CHINA-REISEN

Drei Jahre nach den Massakern auf dem Platz des Himmlischen Friedens verdrängt China mit Besonderheiten zum „Visit China Year 92“ die letzten politisch motivierten Bedenken.

VONANNAGERSTLACHER

„China ist ein sehr attraktives Reiseziel der Touristen... In den letzten zehn Jahren sind bereits 200 Millionen Freunde [wo bleiben die vielen Freundinnen? A.G.] aus verschiedenen Ländern der Welt nach China gereist. Dadurch wurden ihre Kenntnisse über China vertieft und die Freundschaft zwischen dem chinesischen Volk und Völkern anderer Länder der Welt verstärkt.“ Nicht die 'Peking-Rundschau‘ aus den späten siebziger Jahren meldet sich hier zu Wort, nein, das Zitat stammt aus der Pressemitteilung einer chinesischen Delegation im Rahmen der Internationalen Tourismus-Börse im März dieses Jahres in Berlin.

Womit läßt sich diese Euphorie drei Jahre nach der blutigen Niederschlagung der Demokratiebewegung am 4. Juni am Tiananmen-Platz in Beijing, die kurzzeitig einen totalen Zusammenbruch des Tourismus mit sich brachte, begründen? Selbst für die Fachwelt überraschend, hat die Tourismusbranche im letzten Jahr das beste Ergebnis in ihrer Geschichte erzielt. Von Januar bis Dezember 1991 wurden 33,34 Millionen Einreisen registriert, was eine Zuwachsrate von 21 Prozent im Vergleich zu 1990 ausmacht. Bei den 4,96 Millionen organisiert Reisenden mischen auch die Deutschen kräftig mit: 92.300 kamen nach China, das bedeutet eine Steigerung gegenüber 1990 um 76,4 Prozent. „Nach der vor allem politisch begründeten zweijährigen Abstinenz deutscher Urlauber wird jetzt ein Nachholbedarf festgestellt“, lautet dazu die lakonische Anmerkung in der Fachzeitschrift 'Fremdenverkehrswirtschaft‘.

Stolze 2,8 Milliarden Dollar betrugen die Gesamteinnahmen aus dem Tourismus 1991. Doch das reicht noch nicht. Nach wie vor lautet das Ziel, die für 1989 prognostizierten Zahlen mit drei Jahren Verspätung zu erreichen. Das „Visit China Year 1992“ wurde ausgerufen, und einige Besonderheiten stehen dabei auf dem Programm: Da wird eine Reise in „Eis und Schnee“ oder gar eine „Pilgerfahrt“ nach China angeboten. Aber auch „Kulinarische Küchen“ können während der „Flitterwochen“ in der „Heimat von Fisch und Reis“ genossen werden. Dem „Bedauern“ darüber, „daß die meisten ausländischen Gäste nur auf den sogenannten touristischen Trampelpfaden die Länder kennenlernen und bekannte Attraktionen abhaken, statt nicht minder interessante Varianten auszuprobieren“, will man auch dahingehend entgegenwirken, daß in Zukunft — zumindest in der Werbung— mehr Gewicht darauf gelegt wird, BesucherInnen intensiver mit Kultur, Menschen und weniger bekannten Sehenswürdigkeiten zu konfrontieren. Wie das geschehen soll, bleibt ebenso im nebulösen wie die neuen Service-Richtlinien für das „Visit China Year 1992“. Etiketten negativer Errungenschaften wie allerorten steigende Preise und Flughafengebühren bei Inlandsflügen machen selbst die verbesserten Serviceleistungen in den Hotels wett. Eine weiterhin unflexible Bürokratie, die jedes individuelle Bemühen im Keim ersticken läßt, tut das Ihrige dazu. „,Visit Years‘ bedeuten allerorten im allgemeinen nur, daß die Hotelpreise anziehen“, so ein deutscher Reiseveranstalter.

Was vor ein paar Jahren noch als „Füllsel“ für die öden Wintermonate angeboten wurde, ist nunmehr zum ganzjährigen Dauerlutscher geworden. Die Rede ist von Dumping-Angeboten, die nicht nur die Auslastung der 2.000 Hotels landesweit gewährleisten, sondern gleichzeitig den Appetit auf eine teurere Rundreise durchs ganze „Reich der Mitte“ anregen sollen. Zum beinah unvorstellbaren Preis von rund 1.200 DM pro Woche in Beijing sind wir dabei! Großer Service ist da natürlich nicht vorgesehen.

„Visit China 1992“ — die Großoffensive auf dem Tourismusmarkt ist eingeläutet, und die Rechnung scheint aufzugehen. Drei Jahre nach dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens müssen die Forderungen nach Menschenrechten und Demokratie nicht mehr mit Panzern plattgewalzt werden, sie gehen stimmlos im touristischen Trubel unter.

Eine Bestandsaufnahme (in englisch) des kommerziellen Tourismus in China ist bei der Ecumenical Coalition on Third World Tourism in Bangkok erschienen: Tourism in the People's Republic of China — A Case Study (Bangkok, Juni 1991). Zu beziehen bei: Eva Sternfeld, Fidicinstr. 35, 1 Berlin 61. Tel.: 6923391