HINA BRAUCHT EINE TOILETTEN- REVOLUTION

Ein Buch zum Thema Entsorgung der Fäkalien als Bestandteil der gesellschaftlichen Modernisierung löste in der chinesischen Öffentlichkeit rege Zustimmung und abwehrende Mißbilligung aus.

VONEVASTERNFELD

Zhu Jiaming beschäftigt dieses Problem eigentlich schon immer. Er war noch ein Kind, als 1959 der damalige Staatspräsident Liu Shaoqui eine Delegation der Jauchesammler empfing. Der Junge empfand Mitleid für die Onkel Arbeiter, die die Toiletten ausleeren mußten, denn wo immer sie vorbeikamen mit ihrer schwappenden Last, hielten sich die Passanten die Nase zu. Er las in seinen Science-fiction-Büchern und fragte sich, wie die chinesischen Klos der Zukunft wohl aussehen würden.

Rund dreißig Jahre später ist Zhu Jiaming mit seinem Anliegen an die Öffentlichkeit getreten. Er gab ein Buch heraus, dessen Artikel sich ausschließlich mit einem Thema befassen: Eine Milliarde Menschen wollen nicht nur ernährt sein, ihre Exkremente müssen auch entsorgt werden und dies auf möglichst behagliche, hygienische und umweltfreundliche Weise. Der programmatische Anspruch des Buches — „China braucht sehr viele Revolutionen, davon ist die ,Toilettenrevolution‘ nur eine“— hat dem Autor, auch wenn es sich keineswegs um einen kryptischen Aufruf zur Konterrevolution handelt, nicht nur Zuspruch gebracht: „Über Exkremente und Toiletten zu sprechen ist auch in China nicht salonfähig. Wenn Sie die Rede auf eine ,Toilettenrevolution‘ und die vielfältigen Techniken zur Entsorgung von Fäkalien bringen, wenn Sie die Modernisierung der Toiletten gar zu einem Bestandteil der kulturellen Modernisierung erheben, dann werden das viele nur mit Mißbilligung zur Kenntnis nehmen. In den vergangenen Jahren habe ich deswegen viele gute ,Freunde‘ verloren, war oft verzweifelt und den Tränen nahe.“

Doch dafür fand er neue Freunde; so lernte er während eines USA-Aufenthalts Mrs. A. Rockefeller kennen, die er nicht nur als Sponsorin der Toilettenrevolution, sondern auch als Gastautorin gewann. Sie klärt in ihrem Artikel über die Vorzüge der „Clivus Multrum“-Komposttoilette auf. Eine solche Toilette hatte die wohlhabende Erbin 1986 der Stadt Beijing geschenkt. Mit den übrigen öffentlichen etwa sechstausend Toiletten Beijings steht es allerdings, so klagen viele der in dem Buch versammelten Artikel, nicht zum besten. Das Geschäft „der großen und der kleinen Bequemlichkeit“ verkommt allzuoft zu einem unangenehmen Unterfangen. Noch weit entfernt ist China etwa von dem Sauberkeitsstandard Singapurs, wo bereits diejenigen, die nach dem Toilettenbesuch vergaßen, die Spülung zu betätigen, mit einer Geldstrafe belegt werden. Wasserklosetts sind in China ohnehin nur in Großstädten und auch dort nur in Neubaubezirken üblich.

Die chinesische Presse hat diesem Problem unzählige Berichte gewidmet. Dieses öffentliche Interesse ist ein Produkt der Öffnungspolitik. Zahlreiche Artikel begründen die Notwendigkeit einer Toilettenrevolution mit Chinas Renommee im Ausland. Ausländische Gäste hätten sich immer wieder beklagt, die „Versorgung“ (chinesische Küche) sei zwar eine der besten der Welt, die „Entsorgung“ (Toiletten) sei dagegen unglaublich schlecht.

Weinen-springen- lächeln-schreien

Ein solcher Tadel stieß bei den auf Tourismusförderung und Deviseneinkünfte bedachten Politikern durchaus nicht auf taube Ohren. Ein Bericht aus dem Jahre 1984 läßt uns teilhaben an einer Besichtigungstour des Beijinger Bürgermeisters Chen Xitong und seinen fünf Vizebürgermeistern, die sich hochoffiziell in die Niederungen der Beijinger Örtchen begaben. Damals, 1984, konnte Bürgermeister Chen Xitong — sein Ansehen bei der Beijinger Bevölkerung ist wegen seiner Unterstützung des Militäreinsatzes gegen die Demokratiebewegung mittlerweile schwer angeschlagen — sich noch munter unter das Volk wagen und es selbst in den intimsten Bereichen aufsuchen. Unhaltbare Zustände stellte der hohe Inspektor allerorts fest. Im Beijinger Kaufhaus „Dongfeng Shichang“ an der Wangfujing stehen Tausenden von Besuchern ganze drei Toiletten zur Verfügung, von denen eine außer Betrieb und eine als Abstellraum zweckentfremdet ist, die dritte schließlich, ein vierzig Jahre altes polnisches Klosett, funktioniert nur leidlich. „Nach dem Klo, vor dem Essen Händewaschen nicht vergessen“ — diese Hygieneregel ist in China bekannt, doch leider in öffentlichen Bedürfnisanstalten häufig auch bei gutem Willen nicht zu beherzigen. Die Waschbecken fehlen.

Besonders katastrophal stellte sich für die hochgestellte Delegation um Chen Xitong die Toilettensituation in den Wohnquartieren der Altstadt dar. Die Hofhäuser aus Qing- und Ming-Zeit haben keine eigenen Wasseranschlüsse und Toiletten, sondern mehrere Wohnparteien teilen sich ein öffentlich zugängliches Toilettenhaus. Viele dieser Aborte haben auch heute noch keine Wasserspülung und keine Trennwände zwischen den einzelnen Toiletteneinheiten. Obwohl im Auftrag des städtischen Hygieneamts die Jauchegruben regelmäßig geleert werden, verbreitet sich der typische Geruch eines Toilettenhauses oft über das ganze Wohnquartier. Ein Geruch, der nicht nur beißend und unangenehm ist, sondern, wie wir in einem anderen Artikel des Buches erfahren, auch ausgesprochen gesundheitsschädlich: Auf chinesischen öffentlichen Toiletten, deren Geruch im Sommer den zweithöchsten Wert auf einer international festgelegten Skala erreicht, werden bis zu neunfach höhere Konzentrationen für Ammoniak und bis zu 230fach höhere Konzentrationen für Schwefelwasserstoff als zum Beispiel auf japanischen Toiletten gemessen. Solch starke Schadstoffbelastung kann bei den Toilettenbenutzern langfristig zu chronischen Kopfschmerzen, verminderter Sehfähigkeit, Kehlkopf-, Luftröhren- und Lungenentzündungen führen.

Eine Verbesserung der Toilettensituation ist also auch im Interesse der Volksgesundheit. Bürgermeister Chen Xitong versprach daher den Anwohnern eines Altstadtquartiers im Osten der Stadt umgehende Abhilfe und zukünftig einen angenehmeren Klobesuch: Die Leute sollen nicht mehr „weinen-springen-lächeln-schreien“ müssen, verfügte er. Denn dies, so klärt uns das nützliche Buch auf, ist die Kurzbeschreibung eines typischen chinesischen Toilettenbesuchs. „Weinen“ muß die Besucherin, wenn ihr beim Eintritt in die Toilette der stechende Gestank die Tränen in die Augen treibt. Mit verschleiertem Blick muß sie alsdann über die Urinpfützen „springen“, um vielleicht in der hintersten Ecke des Toilettenhäuschens ein halbwegs sauberes Plätzchen zu ergattern. „Lächeln“ ist angesagt, sobald Frau Nachbarin sich auf der Rinne gegenüber niederläßt. Im Sommer allerdings werden die Mücken alsbald dem sich entspinnenden angeregten Schwätzchen ein jähes Ende bereiten und mit ihren penetranten Stichen die Besucherinnen „schreiend“ aus der Toilette jagen.

Wie kommt es bloß, fragt sich nicht nur der Herausgeber, daß ein Volk, das beansprucht, eine der Kulturnationen der Welt zu sein, auf diesem Gebiet des ureigenen menschlichen Bedürfnisses sich, gemessen an den internationalen Standards, in einem völlig unterentwickelten Zustand befindet? Mag sein, daß den Chinesen traditionell ein sehr viel unverkrampfteres Verhältnis zu den eigenen Exkrementen beschert ist als westlichen Menschen, denen in der analen Phase ihre Freude am eigenen Produkt durch eine rigide Sauberkeitserziehung genommen wurde.

In China, das eine lange und hochentwickelte Tradition der Fäkaldüngung hat, waren Exkremente durchaus ein hochgeschätztes Gut. „Kein chinesischer Bauer ginge in die Stadt ohne anschließend an seiner Bambustragestange zwei Eimer wieder hinauszutragen, gefüllt mit was wir Kot nennen“, beschrieb schon Victor Hugo in Les Miserables den traditionellen chinesischen Kreislauf der Ver- und Entsorgung. Fäkalien als nährstoffhaltiger Dünger waren freilich so kostbar, daß sie keineswegs unentgeltlich an die Bauern abgegeben wurden. Um 1900 waren in Beijing fünftausend Männer in der mächtigen Düngergilde organisiert, die in enger Zusammenarbeit mit der Beijinger Polizei den Jauchemarkt kontrollierte. Die Fäkalien wurden Morgen für Morgen von den einzelnen Haushalten gesammelt und auf Holzkarren außerhalb der Stadtmauern transportiert, wo sie auf zugewiesenen und vermieteten Plätzen ausgebracht und getrocknet wurden und anschließlich an die Bauern verkauft wurden. Die Polizei verpachtete auch die öffentlichen Toiletten an die Jauchesammler, die durch Zahlung des Mietzinses das Recht auf die Fäkalien erwarben.

Mit Gründung der Volksrepublik wurden aus den selbständigen Jauchesammlern Arbeiter des städtischen Hygieneamts mit festen Arbeitszeiten und vergleichsweise hohen Tariflöhnen. Unter der neuen kommunistischen Regierung verschwanden die Jaucheplätze direkt vor den Stadtmauern, in der Stdt entstanden unzählige neue Toilettenhäuschen, Plumpsklos zwar, aber gemauert und nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten gebaut. Die Jauche wurde nun, bevor sie auf die Felder ausgebracht wurde, regelmäßig auf Krankheitskeime untersucht. Die öffentlichen „Dreischottentoiletten“ — gegen Ende der fünfziger Jahre nicht nur in den Städten, sondern auch in jedem Dorf gebaut — zeugten nicht nur von den Hygienebemühungen der kommunistischen Machthaber, sondern auch von ihrem politischen Programm. Die extreme Kollektivierung betraf alle privaten Lebensbereiche, eben bis hin zur Auflösung der Familien als „Toilettengemeinschaften“.

„Big Brother is watching you“

Daß beim Bau der Bedürfnisanstalten meist auf Trennwände zwischen den einzelnen Plätzen verzichtet wurde, mag nicht nur Sparsamkeitsgründe gehabt haben. Die kollektive Toilettenbenutzung mag auch zur psychischen Konditionierung für die staatliche Kontrolle beitragen. Wer sich daran gewöhnt hat, in einer öffentlichen Toilette seine Notdurft unter den indiskreten Blicken der Nachbarn und Kollegen zu verrichten, der erträgt es vielleicht auch leichter, wenn die Dame vom Straßenkomitee unangemeldet zum Kontrollbesuch kommt und unter das Sofa schaut.

Der Betrieb und die Instandhaltung dieser kollektiven Bedürfnisanstalten bereitet den staatlichen Organen allerdings zunehmend Probleme. Bekanntlich stehen in zentralistischen Planwirtschaften die Investitionen in den unproduktiven Dienstleistungsektor meist hinten an. Selbst die Entsorgung wird zunehmend zur finanziellen Belastung, seit sich aus Scheiße kein Geld mehr machen läßt. Im Zuge der Modernisierung der Landwirtschaft haben die meisten Bauern auf Kunstdünger umgestellt und nehmen die Fäkalien selbst geschenkt nicht mehr ab. Wohin bloß mit viertausend Tonnen Scheiße, die täglich allein in Beijing anfallen? Nehmen's die Bauern nicht, wird es einfach in die Flüsse gekippt. Ungeklärt meist, denn dafür reicht die Kapazität der beiden Beijinger Klärwerke nicht aus. Nicht nur die Flüsse werden zu Kloaken, auch das Trinkwasser ist in Gefahr. Das Grundwasser im Stadtgebiet hat bereits gesundheitsgefährdend hohe Nitratwerte.

Die Marktwirtschaft im Toilettenbereich

Es soll aber nicht verschwiegen werden, daß sich in jüngster Zeit ernsthaft um Abhilfe bemüht wird. Im Zuge der ökonomischen Reformen hält auch im Toilettenbereich die Marktwirtschaft Einzug. Im Umfeld der zentralen Sehenswürdigkeiten Beijings hat die Besucherin inzwischen die Wahl zwischen dem kostenlosen Gang auf einen stinkenden Abtritt oder der gebührenpflichtigen Visite eines gepflegteren WCs. Bei Zahlung des Eintrittsgelds von 20 Fen (6 Pfennig) erhält sie als besonderen Service hier zwei Blatt rosa Toilettenpapier Marke „Goldfish“ ausgehändigt. Noch besser sind selbstverständlich die „restrooms“ in den inzwischen doch recht zahlreichen Luxushotels, deren Besuch der Touristin, auch wenn sie weniger vornehm residiert, doch immer freisteht. Marmor, Musikberieselung, zartes Toilettenpapier, und beim Händewaschen stehen schon freundliche Toilettenfrauen bereit, mit der Pinzette ein Frotteetüchlein zu reichen.

Und doch kann das alles nicht die Lösung sein. Die Stadt Beijing hat extremen Wassermangel. Bis zu vierhundert Millionen Kubikmeter fehlen im Jahr. Die Versorgungskapazitäten würden derzeit gar nicht ausreichen, all jenen armen Beijingern, die zur Zeit noch aufs Plumpsklo gehen, auch den Luxus der WC- Spülung zu bieten. Ja sicher, es ließe sich einiges verbessern, ist doch das seit vierzig Jahren gebaute WC-Modell „Victory“ mit Dauerspülgang durchaus innovationsbedürftig. Doch pflichte ich, angesichts des Wassermangels, der nicht nur Beijing, sondern fast alle Städte in China plagt, dem Plädoyer der Frau Rockefeller für das oben vorgestellte „Clivus Multrum“-Modell bei. Müssen nur noch die Bauern überzeugt werden, von Kunstdünger auf Kompost umzustellen.

Zhu Jiaming (Hrsg.): Zhongguo xuyao cesuo geming , Shanghai 1988