It's gotta be Rock 'n' Roll Music

■ Deutsche Meisterschaften der Schüler und Junioren im Rock 'n' Roll/ Leistungssport für Kinder, Bewährungstest für Eltern/ Kein stundenlanges Knutschen auf dem Schulhof, sondern fünfmal Training pro Woche

Schöneberg. Eine wunderbare Szenerie bot sich dem Betrachter am Samstag abend vor der Schöneberger Sporthalle. Hundertausend Kinder wuselten vor dem Eingang herum, hüpften entsetzlich aufgeregt die Treppen rauf und runter, hampelten herum, tauschten Klebebildchen für ihre Poesiealben, probierten enganliegende goldschimmernde Kostüme an. Die Spannung schien unerträglich. Doch Einlaß war erst um sechs Uhr. In kleineren Rangeleien suchten sich die Jungs Luft zu verschaffen. Einige Mädchen heulten still vor sich hin.

Die kleine Natascha erlitt fast einen Nervenzusammenbruch, als sie ihre Maskottchen und Kuscheltiere nicht finden konnte. „Dann tanz' ich nicht“, schniefte sie. Die anderen wühlten sich in ihre Plüschtierchen, um etwas Trost und Wärme zu finden. Andernorts griffen die Erwachsenen beruhigend ein, Eltern und Begleiter, die ihre Freizeit selbstlos für das Wohl der Kinder opferten. Ein dicker Onkel mit dem T-Shirt „The sexiest gal in town“ hatte immer zwei Mädels bei der Hand. Mütter, die aus ihren Töchtern kleine Schönheitsköniginnen zauberten, gaben letzte Verhaltenstips aus ihrem reichen Erfahrungsschatz: „Den Kopf immer oben halten, Jenny, hörst du, und lächeln.“

Und endlich ging es los. Alle waren sie gekommen, die besten kleinen Tänzer unserer Republik, um die Meister der Schüler und Junioren zu ermitteln. Die Champs von „Eddi's RRC“, die „Teddybears Iserlohn“, aus Flensburg die „Flying Saucers“, die „Happy Shakers“ aus Regensburg. Festlich geschmückt die Halle mit lustigen Luftballons, bunten Kreppblumen, blinkenden Lichtlein. Die kleinen Paare übten zum letztenmal die Schritte vor dem großen Auftritt, die Gesichter versteinert ernst. Die Eltern gaben letzte Anweisungen, verfielen dann in rhythmischen Applaus, als die Fanfare erklang, das Licht ausging und der Spot den kleinen öligen Conférencier anstrahlte. Eine Stimmung wie bei der Hitparade wogte auf. Fünfzehn Paare in jeder Klasse waren von zweihundert übriggeblieben. Jedes Paar hatte einen kleinen Fanclub dabei, der seine Hoffnungen auf die kleinen Stars bündelte. Aus den bayerischen Reihen erklangen Kuhglocken. „Hau rein, Sumpfi“, lautete der väterliche Rat an den kostümierten Sohnemann für diese extreme Belastungsprobe. Dann standen sie zweisam im Scheinwerferlicht, die Musik blubberte noch, die kleinen Tänzer vollführten die täglich geübten Schrittfolgen.

Mit dem guten alten Rock 'n' Roll allerdings hatte diese Veranstaltung wenig zu tun. Heutzutage ist Rock 'n' Roll ein Leistungssport mit höchsten Anforderungen, in die die Kleinen hineinwachsen sollen. Der Turniertanz mit festem Regelwerk verlangt fünfmaliges Training in der Woche. Stundenlange Knutschereien in der Schulhofecke, atemloses Händchenhalten und der erste Zungenschlag machen hier noch keinen Champion. Liebe, Lust und Leidenschaft gehören nicht zum heutigen Rock 'n' Roll. Die Kids schauten sich nicht in die Augen, sondern wickelten die elterliche Choreographie ab. Die Gesichter so unbeteiligt wie die der beschlipsten Funktionäre an den Richtertischen.

Ganz offensichtlich hatten viele Jungs Probleme mit den sperrigen Mädchenkörpern beim Rundschwung, während die Mädchen noch im wildesten Step ihre Design- Frisuren festhielten. „So ein Mädel wiegt ja glatt einen Zentner“, erläuterten die Jungs später. „Der Affe schaut nie, was ich mache“, hieß es auf der anderen Seite. Und dennoch verlautete aus unterrichteten Kreisen, daß der Rock 'n' Roll viele Paare zum Traualtar führt.

Nun ist der King ohnehin seit geraumer Zeit nicht mehr unter uns und der Rock 'n' Roll längst nicht mehr bösartig. Neue Tänze kamen und gingen. Wir müssen abwarten, wann die ersten Pogo-Meisterschaften für unsere Kinder ausgerichtet werden, mit einem Punktesystem für jede blutende Nase. Unsere Enkel werden sich zu Tekkno-Turnieren finden, während die jungen Sehnsüchte sich ohnehin nur dort begegnen, wo die Eltern nicht beratend zur Seite stehen. Olga O'Groschen