ROCK UND BÜHNE VONCHRISTOPHBECKER

Wenn sich Michael Jackson suchend in den Schritt greift, mag er hoffen, dort Reste schwarzer Kultur anzutreffen. Immerhin ist das prahlerische Zurschaustellen männlicher Potenz, das über bloß rhetorische Leistung nur selten hinausgeht, so alt wie die afro-amerikanische Musik: Bereits auf frühesten Blues-Aufnahmen protzen die Sänger mit sexuellen Höchstleistungen und aufsehenerregenden Längenmaßen. Wie könnte man dem gebleichten Superstar Jackson seine ekstatisch zuckende Rechte verübeln, zumal sein stets beherztes Zupacken in Popkreisen als geradezu innovative Form der Selbstfindung Folgen hatte. Schon bald konnte man die von führenden Frauenrechtlerinnen als emanzipierte Kommunikationsheldin anerkannte Madonna bestaunen, wie sie wiederholt — um nicht zu sagen: eifrig — wechselweise linke wie rechte Hand Richtung Epizentrum führte und dort verweilen ließ — wofür flugs das vielsagende Wort crotching erfunden wurde. Ein offensichtlicher Schritt sexueller Freiheit, der nur vom ebenfalls weißen amerikanischen Rap-Star Marky Mark übertroffen wurde, der einen keineswegs unerheblichen Teil seines überwiegend im Teenie-Umfeld erlangten Ruhmes einer gewürzgurkengroßen Ausstattung zu verdanken hat. Sein Griff zwischen die Beine, die ultimative Macho-Pose, läßt immer noch tausende amerikanischer Kinder schlagartig in Ohnmacht sinken.

So etwas ist selten. Posen, wie sie messianische Kobolde vom Schlage eines Jim Kerr von den Simple Minds oder U2's Bono jahrelang in Videos, Filmchen und Konzerten vorgeführt haben, sind out: Kerr fiel in Momenten inbrünstiger Versenkung gern auf die Knie und knödelte dann, gänzlich in sich gekehrt, von Mandela, dem Straßenkampf und unterschiedlichen Ausformungen der Liebe. Bono beschränkte sich darauf, seinen rebellischen Cowboystiefel auf einer der Monitorboxen am Bühnenrand zu verankern und verschwörerisch vornübergeneigt seinem Publikum eherne Worte zuzuflüstern, um schließlich mit dem mehrtausendköpfigen Stadionrund im eisernen Glauben an eine bessere Welt zu verschmelzen. Manchmal, zum Ende der Show, befahl der Multimillionär seinen Roadies, noch eine Zuschauerin aus der Menge zu zerren und auf die Bühne zu wuchten. Mit der Überwältigten tanzte er dann gerne zu den Rhythmen seiner Kollegen, küßte sie abschließend und schlich von dannen — die Pose in Reinkultur.

Doch U2 haben erkannt, daß mit politisch korrekten Botschaften nichts mehr auszurichten ist im großen Geschäft mit den kleinen Wünschen. Anstatt dem Publikum weiterhin mit simplen Posen die Illusion der Verfügbarkeit zu bieten, versteckt sich Bono neuerdings hinter einer modisch gerundeten Sonnenbrille und setzt die Band während ihrer derzeitigen Welttour auf ein distanziertes multimediales Bühnenkonzept aus wirren Videos und selbstverliebten Effekten.

Beim TV-überfluteten Konsumenten hat sich Mißtrauen breitgemacht. Zu lange sind uns Gefühle teuer verkauft worden. Die erste Frage ist nicht mehr: „Ist das schön?“, sondern: „Ist das echt?“. Authentizität, die vielbemühte Springsteensche Ehrlichkeit, ist zur postmodernen Spielwiese mutiert: Sinead O'Connors Video- Träne zu Nothing Compares to You rief bereits vor zwei Jahren allenfalls Lachsalven hervor, und Tracy Chapmans Bambi-Masche nervt von Platte zu Platte, von Konzert zu Konzert mehr.

Wer heute auf der Bühne, in Videos oder via TV zu Posen greift, muß extrem überzeugend, sehr vorsichtig oder — am besten — selbstironisch sein. Die HipHop-Intelligenzler Public Enemy etwa kreieren bei ihren Auftritten ein nahezu kabarettistisches Spektakel: Die Rapper Chuck D und Flavor Flaw schlüpfen in ihre Rollen des Lehrers und des Clowns, paramilitärisch Uniformierte marschieren martialisch und streng choreographiert zu den ultraharten Geräuschcollagen des DJs, Flavor Flaw baumelt eine überdimensionale Uhr um den Bauch: die tickende Metapher zu den apokalyptischen Szenarien und Warnungen der hochkomplexen Texte. Ein solchermaßen spielerischer, kluger wie tanzbarer Umgang mit Posen, Klischees und Inhalten scheint in der eher wertkonservativen Rockmusik unmöglich. Gut denkbar, daß den hauptsächlich weißen Rockstars ihr tradiertes dualistisches Erbe im Wege steht: Wer den Kopf zufriedenstellen will, kann dem Körper wenig bieten. Eine europäische und höchst protestantische Erkenntnis, die sich im körperfeindlichen Mainstream-Rock von Clapton bis Genesis, von den Dire Straits bis Springsteen wiederfindet. So ist es kein Wunder, daß der Konsum von Rockmusik mehr und mehr zur Domäne CD-verwöhnter und bewegungsfauler Mittdreißiger wird.

Die Kids allerdings goutieren strikt ausgerichtete, meist schwarze Tanzmusik. Schwarze Musik wiederum, ob aus den USA, Jamaica, Kuba oder Brasilien, ist verwurzelt in Afrika, einer vielfältigen Kultur, die zwischen Körper und Geist, zwischen Tanz und Religion, zwischen Musik und Seriosität keine Trennlinie zieht.

PHALLISCHGENERIERTEMUSIK:DUALISTISCHESERBE,ZUKOPFGESTIEGEN