„Ross soll die Perestroika bringen“

Ein parteiloser Außenseiter kandidiert erfolgreich für das Amt des US-Präsidenten/ Der „aufrechte Cowboy“ Ross Perot revolutioniert mit seinem Populismus den US-Wahlkampf  ■ Aus Los Angeles Andrea Böhm

Ilsa Erpels Schmuckstück ist ein schneeweißer Mercedes 220, Baujahr 1965. Der Wagen steht seit morgens vor dem Haus 14450 Ventura Boulevard in Sherman Oaks, Los Angeles County. Ab und zu geht jemand vorbei und wirft ein paar Münzen in den Schlitz der Parksäule, damit Ilsa Erpel keinen Strafzettel kassiert, der die Dekoration der Karosserie erheblich stören würde: Über die Kühlerhaube ist eine US-Flagge gespannt, die Seitenfenster mit Plakaten zugehängt: „Ross for Boss“ und „Perot for President“, das Nummernschild besagt, daß Ilsa „Ready for Ross“ ist.

Wenn sie vor ihrem Auto für die Kameras der Lokalzeitungen in Position geht, verschmelzen der Mercedes und Ilsa in ihren weißen Jeans und ihrem weißen T-Shirt mit Perot- Aufdruck zu einer perfekten Werbeeinheit. Wer im Verkehrsstau hinter dem Benz landet, kann im Rückfenster die neuesten Umfrageergebnisse studieren: 39 Prozent der Kalifornier halten zur Zeit Ross Perot für den geeigneten Mann für das Amt des US- Präsidenten, 26 Prozent würden für Bill Clinton stimmen und 25 Prozent für George Bush.

Bush und Clinton: Kein Grund zum Strahlen

Die beiden letztgenannten Herren befinden sich gerade in Kalifornien im Endspurt um die Nominierung als Präsidentschaftskandidaten, wo Demokraten und Republikaner am 3.Juni ihre Vorwahlen abhalten. Bush hat sie schon in der Tasche, auch Clinton wird die nötigen Delegiertenstimmen zusammenbekommen. Aber Grund zum Strahlen haben beide nicht, denn die Schlagzeilen beherrscht seit Wochen Ross Perot— und das, obwohl der Milliardär aus Texas seine Kandidatur für das Weiße Haus noch nicht einmal offiziell eingereicht hat.

Nun könnte Ilsa Erpel die ganze Angelegenheit ziemlich egal sein. Die 64jährige, seit 29 Jahren in Kalifornien, stammt aus Berlin-Wilmersdorf, hat einen deutschen Paß und folglich kein Wahlrecht — und ihr Englisch erinnert, trotz perfekter Grammatik, ein wenig an Boris Becker. Irgendwann, sagt sie, hätten sie und ihr Mann, US-Bürger und Inhaber einer Werkzeugfirma, den Niedergang dieses Landes nicht mehr mitansehen können. „Die Firmen wandern ab, die Jugendlichen in den Städten finden keine Jobs, und wenn, dann werden sie unterbezahlt.“

Mindestens fünfzigmal habe sie letztes Jahr im Weißen Haus angerufen, unzählige Briefe an Kongreßmitglieder geschickt. „Sogar den Aufruhr in Los Angeles habe ich ihnen vorausgesagt, aber die unternehmen ja nichts.“ Seit Ross Perot als Präsident im Gespräch ist, spart Ilsa Erpel nicht nur Porto, es geht ihr auch seelisch erheblich besser — wie ihren amerikanischen Mitbürgern. Noch nie, sagt sie, habe sie so viele glückliche Menschen gesehen.

Der rapide Genesungsprozeß begann an einem Märzabend vor dem Fernseher, als sich Ross Perot in der CNN-Talk-Show Larry King Live in Szene setzte. Wenn die Leute ihn im Weißen Haus wollten, dann sollten sie ihn mit Hilfe von Petitionslisten als unabhängigen Kandidaten in allen 50 Bundesstaaten ins Rennen schicken. Womit der Mann, den seine Kritiker als politisches greenhorn bezeichnen, zum ersten — und nicht zum letzten Mal — viel Gespür für die Stimmungslage der Nation bewies. Denn wer sich in diesen Zeiten, in denen der Titel „Politiker“ zum Schimpfwort geworden ist, bitten läßt, diesen „Drecksjob“ (O-Ton Perot) zu machen, darf für sich Integrität beanspruchen.

Ilsa Erpel jedenfalls schoß an jenem Abend aus dem Sessel hoch, griff zum Telefon und rief in Perots Zentrale in Dallas an — was im Laufe der nächsten Wochen mehrere Millionen US-Amerikaner taten. Achtzehn Leute gründeten das Ross-Perot-Komitee für Los Angeles County, druckten auf eigene Kosten Flugblätter, Petitionslisten, teilten Telefondienste ein und rekrutierten neue Wahlhelfer. Viele verfügen über keinerlei Erfahrung mit politischen Kampagnen, andere haben sich zuletzt 1980 für Ronald Reagan oder 1976 für Jimmy Carter engagiert — beide ebenfalls Kandidaten, die in einer Phase enormer Wählerfrustration und politischer Verunsicherung gewählt wurden: Carter als integrer Therapeut gegen den Watergate- Schock, Reagan als politisches Anabolikum für ein Amerika, auf das alle Welt nach der Geiselaffäre im Iran mit dem Finger zeigte.

Mittlerweile sind in zwölf Bundesstaaten die nötigen Petitionen für Perots Kandidatur beisammen. Daß die in Kalifornien benötigten 135.000 Unterschriften zusammenkommen, bezweifelt niemand. In der US-Presse kursieren bereits Namenslisten für Perots Kabinett, mancher Kommentator wagt auch schon, den jetzigen Kandidaten der Demokraten, Clinton, vorzuschlagen, sich Perot als Vizepräsident anzudienen.

In Sherman Oaks schwirren täglich mindestens fünfzig Wahlhelfer durch die ehemaligen Ladenräume, dessen Dekoration mit Landesfahnen, blau-weiß-roten Girlanden und handgemalten Plakaten eher an eine Wohltätigkeitsveranstaltung als an eine Wahlkampfzentrale erinnert. Da mühen sich ältere, weißgelockte Damen mit dem Computer ab, während andere draußen vor der Tür Unterschriften für Perots Kandidatur sammeln oder neue Freiwillige „schulen“. Die Instruktionen sind denkbar einfach, aber für ein Parteibüro der Republikaner oder Demokraten undenkbar: „Schnappt euch ein paar Freunde, legt euer Geld zusammen und druckt Transparente. Was ihr draufschreibt, ist völlig egal. Hauptsache, Perot's Name kommt vor.“ Soviel ideologischer Freiraum stört die Anhänger in Sherman Oaks keineswegs — im Gegenteil: Hier arbeiten mit wahrem Missionseifer ehemalige Republikaner, Demokraten und Unabhängige zusammen. Das Spektrum reicht von ehemaligen Polizisten, die am liebsten die US- Marines bei der Revolte in Los Angeles hätten „aufräumen“ lassen, bis zu radikalen Linken, wie Brent Davis, der bei den Fernsehbildern aus dem brennenden South Central Los Angeles mit klammheimlicher Freude die Faust geballt und „Burn, Baby, Burn“ zwar nicht gesagt, aber gedacht hat.

Jetzt wippt der ehemalige Alt-68er und heutige Dozent für Linguistik im Wahlkampfbüro ausgelassen auf seinem Stuhl hin und her, strafft seine Hosenträger, die vor allem als Steckfläche für rund zwanzig Perot-Buttons dienen. „Wir sind eine Massenbewegung“, sagt der 55jährige genüßlich und verrät das Erfolgserlebnis: Das scheinbar unerschütterliche Zweiparteiensystem und das politische Establishment sind in helle Panik versetzt worden.

Realitätsverlust der etablierten Kandidaten

Nirgends wird diese Genugtuung offensichtlich so stark empfunden wie in Kalifornien. Aus dem Golden State der achtziger Jahre ist ein wirtschaftliches Krisengebiet geworden, und die Revolte von Los Angeles hat diesem schleichenden Gefühl des Niedergangs einen dramatischen Schub verliehen. Vor allem aber haben die Kalifornier US-Präsident Bush dessen Reaktionen auf die Straßenschlachten und Plünderungen nicht verziehen: Neben verquasten Appellen an Law and order machte Bush die Sozialpolitik der Demokraten von vor über zwanzig Jahren für die Unruhen verantwortlich. Er vermittelte damit selbst eingeschworenen Demokratenhassern den Eindruck, ihr Präsident leide unter leichtem Realitätsverlust.

Auch Bill Clinton, jener Mann, der seinen Einzug ins Weiße Haus seit seiner Studentenzeit geplant hat, gelang es nach dem Aufruhr von Los Angeles nicht, sich und seinem Wahlkampfteam einen Ruck zu geben — und damit ein Gespür für das Ausmaß der Krise zu signalisieren. „Demoplikaner and Republikraten“, schnaubt Brent Davis verächtlich, was soviel bedeutet wie: Alle großen Parteien sind eine Soße.

Vor diesem Hintergrund mußte Ross Perot bislang nicht besonders viel tun, um seine Popularität zu steigern. Daß der Mann Milliardär ist, macht ihn „hervorragend geeignet für den Job“, sagt Dave Kellum, 42 Jahre alt, arbeitslos und rund um die Uhr ehrenamtlich Wahlhelfer. „Da ist er wenigstens nicht bestechlich.“

Elektronik-Populismus statt Wahlprogramm

An Perots notorischer Weigerung, sich zu konkreten Politikfeldern zu äußern, stören sich zwar Politikwissenschaftler und Journalisten, nicht aber seine potentiellen Wähler. „Die wollen gar nichts über konkrete Programme hören“, sagt Perot. Die Stimmung gibt ihm recht. Sobald sich der Texaner auf ausgefeilte Pläne zur Reform des Steuer-, Gesundheits- oder Erziehungswesens einließe, wäre er Teil des Politikerzirkusses, den zu bekämpfen er vorgibt. Statt dessen verspricht er für den Fall seiner Wahl die Einführung von „town meetings“: eine Art dezentrale Volksabstimmung, elektronisch miteinander verbunden, über politische Fragen, die bislang im Weißen Haus und im Kongreß entschieden wurden. Der Vorschlag ist nichts weiter als purer Populismus, wie alles, was Perot sagt und tut, aber wirksam, weil er radikal mit der politischen Kultur des Landes bricht.

Perot ist nicht nur ein guter Populist, sondern auch ein — im Vergleich zu Clinton und Bush — ausgesprochen origineller Rhetoriker. Sein öffentliches Auftreten, hemdsärmelig, oft unverfroren und sehr direkt, ist in der US-Presse schon mit dem kometenhaften Aufstieg Alberto Fujimoris in Peru verglichen worden — ebenfalls ein Geschäftsmann ohne jede politische Erfahrung, der mit dem Ticket des Außenseiters ein politisches Establishment besiegte, das sich in den Jahren zuvor selbst disqualifiziert hatte.

Ross Perot, schrieb kürzlich der konservative Kolumnist George Will, habe die Rolle des einsamen, aufrechten Cowboys übernommen, der sich widerwillig und auf Drängen der Bürger den Sheriffstern anheftet, um in der Stadt Ordnung zu schaffen— um dann wieder gen Sonne zu reiten. Folglich hören sich die Erwartungen der Wahlhelfer an einen möglichen Präsidenten Perot an wie ein kindlicher Weihnachtswunschzettel. „Er soll die Perestroika nach Amerika holen“, sagt Brent Davis. „Er soll das Land wieder in Schuß bringen“, sagt Ilsa Erpel. „Defizit ausgleichen und nicht soviel im Weißen Haus herumsitzen“, meint kurz und knapp Dave Kellum.

Noch nimmt Perot solche Projektionen gern entgegen. Denn noch hat er seine Kandidatur nicht offiziell bekanntgegeben, noch muß er nicht taktisch denken und auf irgendwelche Wählergruppen Rücksicht nehmen, noch muß er sich nicht den anderen Kandidaten in direkten Rededuellen stellen. Spätestens dann könnte sich herausstellen, daß das Leben eines Sheriffs doch schöner und einfacher ist als das eines Präsidentschaftskandidaten.

Egal wie weit Perot letztlich kommt, er hat bereits radikal einige Traditionen über den Haufen geworfen: Er verzichtet auf die kräfteraubenden Shake-Hands-Touren durch Schulen, Fabriken und Turnhallen. Statt dessen setzt er sich, einem Massenprediger nicht unähnlich, via Fernsehen ins Szene, läßt seine Reden vor begeisterten Anhängern, wie zuletzt in Florida, per Satellitenschaltung in fünf weitere Bundesstaaten übertragen. Wenn er am 3.November auch nicht ins Weiße Haus einziehen wird, die Art, Wahlkampf zu führen, hat er allemal revolutioniert.

Im Wahlkampfbüro von Sherman Oaks müht man sich mit solchen Überlegungen nicht ab. Hier wird bereits der nächste Schritt diskutiert: Wer wird Vizepräsident? „Der beste Mann“, sagt Dave Kellum, „wäre Norman Schwartzkopf. Der würde sich ums Ausland kümmern, und Ross könnte den Laden hier wieder in Schuß bringen.“