Ohne Wahrheit keine Versöhnung

■ In Potsdam zogen Historiker und Politiker eine erste Bilanz der Geschichtsaufarbeitung/ Thierse gegen moralischen Rigorismus/ Richard von Weizsäcker fordert Bereitschaft zur Versöhnung

Potsdam (taz) — Einen Satz hat Ralph Giordano oft gehört: „Es muß einmal ein Ende haben, wir müssen endlich Schluß machen“. Seit 1945, seit die Deutschen ihren „großen Frieden mit den Tätern“ schlossen, ist die politische Kultur der Bundesrepublik für den Publizisten von der Verdrängung des Nationalsozialismus geprägt. Der ersten Schuld, der Verbrechen des NS-Staates, folgte für Giordano die zweite — das Leugnen und Verschweigen. Am Wochenende rief Giordano bei einer zweitägigen Veranstaltung der „Deutschen Gesellschaft“ in Potsdam die rund 300 Teilnehmer des Forums, darunter auch Bundespräsident Richard von Weizsäcker, auf, die Fehler der Geschichtsbewältigung nicht zu wiederholen. Der Bevölkerung in der ehemaligen DDR möchte Giordano, „wenn ich darf“, sagen, daß Verdrängen politisch nichts bewirke und nichts, aber auch gar nichts aufarbeite.

1945 — 1989, ein (un-)möglicher Vergleich? Wolfgang Thierse, SPD- Vorstandsvize, hatte schon zu Beginn des Kolloquiums in der ehemaligen Parteihochschule gemutmaßt, daß allein schon der Titel der Veranstaltung eine Zumutung für viele sein müsse. Ein Vergleich des Nationalsozialismus mit der realsozialistischen DDR wurde denn auch von allen Podiumsteilnehmern verworfen. Parallelen in der Form der Bewältigung zu ziehen, wurde dagegen in unterschiedlicher Weise als zulässig erachtet. Für den Bundesbauftragten Joachim Gauck gilt: „Verschweigen dient nicht der Herstellung des inneren Friedens, sondern bestenfalls eines faulen Friedens.“ Sollte in der Frage der DDR-Vergangenheitsbewältigung der gleiche Weg wie nach 1945 beschritten werden, fürchtete auch Ralph Giordano, dann werden wir uns noch Mitte des nächsten Jahrhunderts mit der stalinistischen Vergangenheit der DDR auseinandersetzen müssen.

Der Schriftsteller Jürgen Fuchs warnte vor einer Tendenz des „Wegdrängens und Relativierens“. Er verwahrte sich gegen die „Umkehrung“, wonach es heute die BürgerrechtlerInnen seien, die die „Sudeleien“ der Stasianschuldigungen betrieben. Indirekt wandte er sich damit gegen den Vorwurf Thierses, der allgemein eine „selbstgerechte Verfolgungswut fundamentalistischer Aufklärer“ kritisiert hatte. Thierse, den im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung um die Stasi-Kontakte des Brandenburger Ministerpräsidenten von einer „für demokratische Verhältnisse bestürzenden Identifikation mit Stolpe“ sprach, beklagte einen „Gedächtnisverlust derer, die jetzt so wunderbar scharf urteilen können“. Der Maßstab einer Bewertung müsse sich an den „Grautönen“ orientieren, „die unser Leben charakterisiert“ haben.

So einig die Experten die Notwendigkeit der Vergangenheitsbewältigung betonten, so unklar blieben aber die eingeklagten Kriterien, nach denen verfahren werden sollte. Michael Woffsohn, Geschichtsprofessor an der Bundeswehrhochschule in München, brachte die anstehenden Schritte zur Vergangenheitsbewätlitigung auf die griffige Formel: „Wissen, werten, weinen, wollen“. Der Offenlegung und Bewertung müsse eine wenigstens symbolische Trauer folgen, die dann erst das „Wollen“, den notwendigen ersten Schritt zum weiteren Handeln möglich mache.

Ausgehend von den jüngst veröffentlichten Thesen des Frankfurter Soziologieprofessors Jürgen Habermas, wonach das Ziel einer Vergangenheitsbewältigung einen Austausch der belasteten Elite, die Wiederherstellung der Gerechtigkeit und die Entwicklung einer demokratischen Kultur zum Ziel haben müsse, forderte der Historiker an der Berliner Humboldt-Universität, Rainer Eckert, erst einmal genau zu definieren, wer Täter und wer Opfer war.

Eckert beklagte, daß die Rehabilitierung der Opfer gegenwärtig zu kurz komme. Er zog eine Parallele zwischen den Schutzbehauptungen nach 1945 und denen nach dem Zusammenbruch der DDR. Während die „Täter“ heute schon wieder auf Formeln zurückgriffen, nichts gewußt und nur die Pflicht erfüllt zu haben, machten die Leidtragenden des DDR-Systems die Erfahrung, daß sich viele der ehemaligen Leistungsträger über den Systemwechsel hinüberretten konnten.

Professor Olaf Groehler von der Berliner Akademie der Wissenschaften sah den Elitenwechsel dagegen als weitgehend vollzogen an. So hätten 70 Prozent der im weitesten Sinne als staatsnah zu bezeichnenden Personen der Ex-DDR wegen des wirtschaftlichen Zusammenbruchs ihre früheren Positionen verlassen müssen.

Während Eckert den behaupteten Elitenwechsel bestritt, befürchtete der Essener Geschichtsprofessor Lutz Niethammer, daß die Geschichtsaufarbeitung nur noch von Wissenschaftlern aus dem Westen begleitet werde. Mit Ausnahme der Humboldt-Universität forschten an den Hochschulen in Ostdeutschland nur Wessis. Wenn „dieser Prozeß durchschlägt“, könnte der gesamte „Prozeß der Aufarbeitung daneben gehen“. Niethammer sah in der gegenwärtigen Konzentration auf das Thema Staatssicherheit einen „doppelten Entlastungsprozeß“. Zum einen werde DDR-Geschichte damit auf die Auseinandersetzung zwischen Stasi und Bürgerrechtsbewegung reduziert, zum anderen die politische Verantwortung für 40 Jahre DDR lediglich auf die Stasi-Problematik übertragen.

Eine Versöhnung ohne die Zumutung der Wahrheit kann es nicht geben. Diese Aussage von Wolfgang Thierse wurde von allen Teilnehmern geteilt — allen voran von Richard von Weizsäcker, der am Samstag nachmittag das Schlußwort hielt. Der Bundespräsident ergänzte: „Eine Wahrheit ohne Aussicht auf eine Versöhnung ist unmenschlich.“ Ob diese allerdings tatsächlich zur Versöhnung führen werde, sei ungewiß. Dies sei „das Risiko in dem Prozeß, in dem wir uns befinden“. Wolfgang Gast