Die Ästhetik des Ruinierten

■ Der selbstverwaltete Künstlerverein »Milchhof e. V.« hat sich in einer ehemaligen Meierei in der Anklamer Straße eingerichtet

Mitte. Die Ästhetik der Ruine. Der ruinierte Staat DDR, die ruinierten Hoffnungen nach der Wende, aus denen nun neue wilde Blüten treiben. Will man die zahlreichen neuen Kunstprojekte in Ost-Berlin auf einen Nenner bringen, was eigentlich nicht ganz zulässig ist, so könnte man diesen so umschreiben. Die Ruine als unfertiges, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gleichzeitig umgreifendes Hoffnungsbild: In Gestalt des Tacheles ist sie schon geradezu berühmt geworden. Das Tacheles hat aber auch einige kleine ältere und dennoch weniger bekannte Schwestern. Eine davon ist die per wöchentlichem Plenum selbstverwaltete Künstlergemeinschaft »Milchhof e.V.« in der Anklamer Straße 29 im nördlichen Teil des Bezirks Mitte.

Wobei noch zu erklären wäre, daß die Ästhetik des Ruinierten nicht bewußt inszeniert wurde, künstlich- künstlerisch, sondern sich schlicht durch die Verhältnisse selbst produziert. So auch im Milchhof, im dritten Hinterhof eines bröckeligen braunen Gebäudes, der Anfang dieses Jahrhunderts eine Meierei und später das Lager der »VEB Berlin Kosmetik« beherbergte: früher Milch, danach Öle und Fette — auch das Stoff für Künstlerträume. Ein Teil der erdfarbenen Gebäude rund um den Hof, auf dem der Maler Uwe Henning gerade ein Stück der »alten Erdspuren« freigelegt und eingefärbt hat, ist immer noch kriegszerstört. Inmitten der bizarren Industrielandschaft — im Hintergrund ein altes Förderband — lungern zwischen Schrott und Steinen nicht minder bizarre Gestalten aus dem Bildhaueratelier.

An dem kleinen Tisch zwischen Reiterfiguren und barocken Büsten hockt Frank Welke, Fotograf, und erzählt. Auf der Hofseite, wo früher die Kühe dem Melker entgegenglotzten, hat er heute ein kleines enges Atelier. Die gekachelten Katakomben und die vier Tiefbrunnen im Grundstück stammen ebenfalls noch aus den Meierei-Zeiten. Und auch das unterirdische Gängesystem, von dem heute mangels Plänen kein Mensch mehr weiß, ob es tatsächlich — wie manche vermuten — bis über die ehemalige Grenze an der Bernauer Straße hinaus reicht: Betreten verboten. Lebensgefahr.

Ein Ort für Abenteurer? Jedenfalls für Lebens-Künstler. Vierzehn KünstlerInnen, zehn Männer und vier Frauen, haben sich im Juni 1991 zur Ateliergemeinschaft zusammengetan, erfolgreich mit der zuständigen Wohnungsbaugesellschaft verhandelt und die insgesamt 2.300 Quadratmeter Fläche in Beschlag genommen. Eine stolze Größe, doch stolz sind auch die Geldbeträge, die nötig wären, um alle Räume wieder wirtlich und beheizbar zu machen. Zum Beispiel die große Halle, die im letzten Sommer eine Werkschau der Künstlergemeinschaft beinhaltete und für ein Theater- oder Tanzprojekt bestens geeignet wäre. Oder die andere Halle mit dem kaputten Holzdach, durch das der Himmel pieselt. Und da der Milchhof bis auf ein paar Mark für Einzelprojekte bislang keinerlei staatliche Unterstützung erhält, wissen die zum Teil auf Sozialhilfeniveau lebenden KünstlerInnen nicht, wie das alles finanzieren. Wie sie auf Dauer verhindern können, daß ihre Träume zu Schäumen werden. Frank Welke formuliert es so: »Von der Kunst zu leben ist die Kunst zu überleben.«

Die Ruine als Lebensform. In ihren Räumen, jedenfalls den in Selbsthilfe Marke Eigenbau hergestellten, arbeiten Bildhauer, KeramikerInnen, MalerInnen und der Fotograf. In ihren Kellern üben zwei Bands und die Performance-Gruppe »Dead Chickens«. Im Hof parkt der Bus einer Kreuzberger Gruppe, die immer wieder »Kunst gegen rechts« nach Hoyerswerda trägt. Und im Trakt neben der Keramikwerkstatt entsteht in Zusammenarbeit mit dem Künstlerhaus Bethanien ein Gastatelier für ausländische KünstlerInnen. Auch Frank Welke träumt von einer »internationalen Begegnungsstätte«, zumal es hier erstens Platz genug und zweitens alte Freundschaften beispielsweise zu einer Künstlergemeinschaft in St. Petersburg gibt.

Sie entstanden, als die drei hier am längsten Ansässigen, der Bildhauer Sergej Dott, die Töpferin Christiane Hermann und der Maler Uwe Henning, noch in DDR-Zeiten ihre Ateliers zu offenen Häusern machten. Inzwischen sind letztere die ersten, die sich in der Keramikwerkstatt halbwegs erfolgreich auf die neuen kapitalistischen Zeiten umgestellt haben. In einem kleinen weißen Verkaufsraum schimmern Schalen und Teller, von Christiane in einem Ofen Marke DDR-Improvisationstechnik gebrannt und von Uwe mit tanzenden Figuren bemalt, an der Wand hängen Filzobjekte und -hüte. Im Haus gegenüber werkelt ebenfalls ein Keramiker. Jörg Meemann, ein Westler, stellt architektonische Objekte her: Ruinen. Die Ideen dafür rieseln gewissermaßen von der Decke.

Schutt und Abfall: Die KünstlerInnen haben schon 34 Container aus den Zeiten des VEB Berlin Kosmetik zutage gefördert. Ein Teil davon liegt immer noch im Hof. Dennoch soll hier, wie schon im letzten, so auch in diesem Sommer, ein rauschendes Hoffest inklusive Werkschau, Theater und Bands gefeiert werden. Die beantragten Mittel jedoch wurden vom Kulturamt Mitte nicht bewilligt. Nicht aus Böswilligkeit, sondern weil mangels materieller Ressourcen drei von vier AntragstellerInnen leer ausgingen. Auch in den öffentlichen Haushalten herrscht die Ästhetik des Ruinierten. Ute Scheub

Milchhof e.V., Anklamer Straße 29, Tel.: 281 22 88