SMALL IS POWERFULL Von Mathias Bröckers

Jetzt fliegen sie wieder. Und wenn die Leute einen Schmetterling sehen, sind sie gleich ein bißchen freundlicher gestimmt. Die zarte Eleganz der Schmetterlinge, ihre Farbenpracht und schwebende Leichtigkeit wirken irgendwie ansteckend — wenn Menschen sie wahrnehmen, lächeln sie meistens. Die Pfauenaugen, Schwalbenschwänze und Zitronenfalter gelten als das Naturschöne schlechthin. Diesen Rang verdanken die Schmetterlinge aber nicht nur ihrer perfekten Performance als geflügelte Boten vollendeter Ästhetik, sondern auch ihrer niederen Herkunft: daß sich ein ekliges Kriechtier wie die Raupe zu einem fast schon engelartigen Flug- Genie emporschwingen kann, ist das Paradebeispiel für die Verwandlungskraft der Natur. Generationen von Naturforschern demonstrierten daran das Wunder der Metamorphose, und die Begeisterung, die uns beim Anblick von Schmetterlingen überfällt, hat sicher mit ihrer Reinkarnation zu tun: als schwebendes „Prinzip Hoffnung“ verkörpert ihr Flug das Versprechen, daß Trägheit und Erdenschwere letztlich überwindbar sind. Darüber hinaus sind Schmetterlinge als wissenschaftliches Demonstrationsobjekt in jüngster Zeit zu neuen Ehren gelangt: als „Schmetterlingseffekt“ machte ihr Flügelschlag in der Chaostheorie Furore. In den 60er Jahren entdeckte der Meteorologe Edward Lorenz, daß winzige Ursachen massive Konsequenzen haben können, doch seine Veröffentlichungen über die Zwangsläufigkeit des Chaos und die Unmöglichkeit, das Verhalten solcher Systeme langfristig vorherzusagen, erregte in der Gemeinde der Wissenschaft, die tapfer an ein mechanisches Naturgeschehen und ein im Prinzip kontrollierbares Wetter glaubte, keinerlei Aufsehen. Erst Ende der 70er Jahre wurden Lorenz und seine berühmte Frage wiederentdeckt: „Kann das Flügelschlagen eines Schmetterlings in Brasilien einen Tornado in Texas auslösen?“ Es kann! Was natürlich nicht heißt, daß jeder Schmetterling nun dauernd Wirbelstürme auslöst. An einem kritischen Punkt aber reicht ein einziger Flügelschlag, um die ganze Erdatmosphäre durcheinanderzubringen: Für einen Moment stürzt sie ins Chaos, um sich dann wieder in einem neuen Ordnungszustand zu stabilisieren. Was Lorenz für die Meteorologie gefunden hatte, wurde mittlerweile auch in zahlreichen anderen Bereichen entdeckt: ob es sich um die Population eines Fischteichs oder den menschlichen Herz-Rhythmus, mathematische Gleichungen oder die Großwetterlage handelt. Der Tropfen, der das Faß zum Überlaufen bringt, der Rentner, der sein Sparbuch abhebt und einen Börsenkrach auslöst, der Hinterbänkler, der mit einem Zwischenruf die Regierung stürzt — die „sensitive Abhängigkeit von den Anfangsbedingungen“, so der Fachausdruck für den Schmetterlingseffekt, scheint dem gesunden Menschenverstand durchaus vertraut. Und doch müßte uns die wissenschaftliche Entdeckung dieser Alltags-Banalität eigentlich den Atem rauben: so zusammenhängend, daß die Bewegung eines Insekts auf große Katastrophen Einfluß nimmt — so vernetzt und ganz hatten wir uns Mikro- und Makrokosmos der Natur nun doch nicht vorgestellt. Und so verkörpert der Schmetterling nicht nur als Verwandlungskünstler, sondern auch als Tornado-Ursache ein tröstendes Versprechen: Scheinbar unwichtige Dinge können gewaltige Wirkungen haben. Small is powerfull. Selbst die kleinste lockere Schraube im Universum ist nicht überflüssig.