Suche nach dem TV von morgen

Aids-Test live oder per Knopfdruck in den Golfkrieg: Eine internationale Konferenz besprach in den USA die Möglichkeiten des Public Television  ■ Aus Baltimore Andrea Böhm

Der Gastgeber hätte sich gern in entspannterer Verfassung gezeigt. Aber das politische Klima für das nicht privatisierte Fernsehen in den USA ist zur Zeit eisig. Konservative Senatoren haben den „Public Broadcasting Service“ (PBS) wegen vermeintlicher Unausgewogenheit ins Visier genommen, der US-Kongreß hat das beantragte Dreijahresbudget in Höhe von 1,1, Milliarden Dollar bislang nicht genehmigt. Die diesjährige „International Public Television Screening Conference“, kurz „Input“ genannt, in Baltimore war für die Mitarbeiter von PBS und staatlich gesponserten Rundfunkprogrammen der anderen US-Bundesstaaten folglich eine angenehme Abwechslung unter „Gleichgesinnten“: Über 600 Delegierte aus Europa, Afrika, Lateinamerika und Asien waren für eine Woche gekommen — nicht um Fernsehen zu machen, sondern um es zu konsumieren. Täglich acht Stunden konnten Produzenten, Regisseure, Redakteure, Programmdirektoren ansehen, was die Kollegen aus anderen Ländern ihren Zuschauern allabendlich anbieten. Eine Jury hatte zuvor über hundert Filme ausgewählt — darunter Talkshows, Fernsehspiele, Dokumentarfilme. Da es bei den Input-Konferenzen keine Preise zu gewinnen gibt, ist technische Perfektion nicht das ausschlaggebende Kriterium, was den Raum schafft für manchmal außergewöhnliche, aber auch sehr kontroverse Produktionen.

Vor allem aber kann man fern von Alltagsstreß, Einschaltquoten und der Konkurrenz der Privaten einmal in Ruhe über die eigenen Produkte diskutieren. Investigativer Journalismus? Ja, aber welche Mittel sind erlaubt? Hautnahe Dokumentarfilme? Ja, aber wieviel Raum zur Selbstdarstellung ist vertretbar, wenn in einem Film über Rechtsextremismus Neonazis zu Wort kommen? Wann dient das TV nur noch Sensationsgier und Voyeurismus? Reichlich Diskussionsstoff bot dazu vor allem die Sendung Studio Libre, eine Talkshow für Jugendliche der Radio Societ Canada. Mistou, eine der Top-Popstars in Kanada, hatte sich bereit erklärt, vor laufender Kamera einen Aids-Test durchzuführen, um zwei Wochen später, wieder live, mit dem Ergebnis konfrontiert zu werden. „Gut gemacht“, konstatierte ein britischer Journalist, „aber es hätte um Haaresbreite auch ein Debakel werden können.“ So mancher schluckte zwar bei der Kombination von Plastik-Popsongs, Gesprächen über Safer Sex und Ansteckungsformen und schließlich der Bekanntgabe des Testergebnisses, bei dem die Sängerin in Tränen ausbrach: aus Erleichterung, das Resultat war negativ. Doch diese Form von Disco-Didaktik schlug beim kanadischen Jugendpublikum voll ein. Die Sendung war wochenlang Gesprächsstoff in Schulen und Medien. Was aber, wollten einige Delegierte von Regisseur Pierre Sequin wissen, „hätten Sie gemacht, wenn das Testergebnis positiv gewesen wäre?“ Die Show weiterlaufen lassen, war die Antwort — notfalls mit einer anderen Sängerin und einem besinnlicheren Lied zum Ausklang.

„Interactive Television“ heißt das Zauberwort

Einen ganz anderen Nerv traf die BBC-Produktion From Wimps To Warriors — Bermondsey Boy, die im Rahmen einer Serie über Männer und deren Selbstverständnis, ihren Körper und ihre Sexualität ausgestrahlt wurde. Über mehrere Wochen folgte ein Filmteam Dave, der sein Geld damit verdient, für Kredithaie Schulden einzutreiben — entweder mit Androhung oder Anwendung physischer Gewalt. Das ist für Dave nicht nur ein Job, sondern auch die Möglichkeit, sich und seinen unerschütterlichen Glauben an Gewalt selbst zu inszenieren. Der Regisseur verzichtete auf jede Form von Kommentierung und überläßt das gesprochene Wort der Hauptperson — offensichtlich in dem Glauben, dessen Mischung aus Machismo und Sozialdarwinismus würde sich von selbst entlarven. Darüber gingen die Meinungen im Fachpublikum auseinander. Viel umstrittener war allerdings die Arbeitsweise des Teams: Die Crew begleitete Dave, ausstaffiert mit Schlagringen und Knüppel, mit laufender Kamera zu mehreren „Einsätzen“. Seine Opfer durchlebten ihre Bedrohung und Erniedrigung nicht nur in der Situation selbst, sondern mußten sich dabei auch noch filmen lassen. Um Erlaubnis, das Material senden zu dürfen, wurde auch im nachhinein nicht gefragt.

Zu intensiveren Diskussionen kam es allerdings kaum. Dazu war die Zeit nach den Vorführungen zu kurz, die Zuschauersäle zu voll, das Programm zu dicht. Die meisten Teilnehmer genossen vielmehr Fernsehen und Flurgespräche und eine Vision über neue Pionieraufgaben für das Fernsehen: „Interactive Television“ heißt das Schlagwort. Der Zuschauer soll vom passiven Konsumenten, dessen Handlungsspielraum auf das Zapping beschränkt ist, in einen aktiven Kommunikationspartner verwandelt werden. Er bestimmt das Programm quasi selbst. Deutsche und österreichische Fernsehkonsumenten haben bereits mit der Primitivform des „Interactive Television“ Bekanntschaft geschlossen, als ARD und ZDF respektive ORF 1 und 2 im Dezember 1991 den Krimi Mörderische Entscheidung ausstrahlten. Auf dem einen Kanal aus der Sicht des männlichen, auf dem anderen aus der Sicht der weiblichen Hauptdarstellerin. Zu den glühendsten Verfechtern von „Interactive Television“ zählt der deutsche Dokumentarfilmer Peter Krieg (Septemberweizen), der in Baltimore seinen Dokumentar-Essay Suspicious Minds (The Order of Chaos) zeigte. Rund hundert Delegierte hatten dabei die Möglichkeit zur „Interaktion“: Über computergesteuerte Laserdiscs konnten sie per Knopfdruck die Dramaturgie des Dokumentaressays verändern und neue Sequenzen einbauen. So können, glaubt Krieg, Zuschauer in naher Zukunft ihren eigenen Film zusammenbasteln, Aufbau und Ausgang einer Story verändern. Viele hoffen durch „Interactive Television“ neues Terrain — und damit mehr Gewicht gegenüber der privaten Konkurrenz — zu gewinnen. „Interactive Television“ will Raymond Ho, Executive Producer beim öffentlichen Fernsehen im US-Bundesstaat Maryland, vor allem in Form von Erziehungs- und Bildungsprogrammen einsetzen: Der Fernseher übernimmt quasi die Funktion einer Datenbank. Wer sich im fortgeschrittenen Zeitalter des „Interactive Television“ zum Beispiel einen Dokumentarfilm über den Golfkrieg ansieht, kann jederzeit per Knopfdruck ins Programm eingreifen und Informationen über bestimmte Aspekte vertiefen, indem er weitere Filmsequenzen auf den Bildschirm holt. Das sei die „Heirat von Computer und Fernseher“, schwärmt Raymund Ho, der sich von diesem Lebensbund die Chance erhofft. Doch diese Hochzeit könnte zumindest in den USA daran scheitern, daß PBS mangels Geld gar nicht mehr zur Feier antreten kann.