Allianz der Ignoranz

■ Warum Familienplanung auch für alle Frauen in der Dritten Welt als fundamentales Menschenrecht anerkannt werden muß

Tag für Tag füllen Journalistinnen und Journalisten die Zeitungen dieser Welt mit monotonen Klagen: Mehr und mehr Arten sterben aus; immer größere Sphären der Natur werden von Menschen erschlossen, ausgebeutet und zerstört; mehr und mehr Menschen werden durch Umweltbelastungen gesundheitlich geschädigt. Bei diesem Lamento wird eine entscheidende Ursache der ökologischen Katastrophe geflissentlich ausgeklammert: das immer rasantere Wachstum der Weltbevölkerung. Politiker sprechen nicht davon, auch Greenpeace oder der World Wildlife Fund schweigen — das Thema ist tabuisiert.

Während auf der ersten Weltbevölkerungskonferenz der Vereinten Nationen 1974 in Bukarest die meisten Vertreter der Dritten Welt die von Amerikanern geforderte Stabilisierung der Bevölkerungszahlen im Süden noch als perfides imperialistisches oder neokolonialistisches Manöver zurückwiesen, hat sich die Situation inzwischen ins Gegenteil verkehrt. Sämtliche Entwicklungsländer mit starkem Bevölkerungswachstum versuchen mit großen Aufklärungskampagnen die Zwei- Kind-Familie zum gesellschaftlichen Leitbild zu erheben.

Die Regierung der USA hingegen strich, um die fundamentalistische moral majority im eigenen Land zu befriedigen, 1984 ihre großzügige Unterstützung für die Bevölkerungsagentur der Vereinten Nationen (UNFPA) sowie die meisten privaten Organisationen, die Familienplanung in der Dritten Welt unterstützen.

An der Seite von Pro-Life-Strategen wie Ronald Reagan und George Bush, der diesen Boykott weiterführt, stehen Feministinnen und klagen an, daß Frauen Familienplanung aufgezwungen und ihnen gesundheitsschädliche Kontrazeptiva aufgedrängt würden. Am gleichen Strang ziehen römische Kurienkardinäle, die den „Verhütungsimperialismus“ geißeln. Auch Saddam Hussein und andere warlords des Trikont, die für den nächsten Krieg rüsten, stärken diese obskure pronatalistische Allianz. Neoliberale Ökonomen liefern ihnen Argumente, wenn etwa der Free-Market- Propagandist Julian Simon mit Verweis auf Hongkong behauptet, daß viele Menschen die entscheidende Ressource für Wirtschaftswachstum und Wohlstand seien.

In Deutschland haben sich die Grünen dadurch hervorgetan, daß sie die Entwicklungshilfe, welche die Bundesrepublik für die Unterstützung von Familienplanungsprogrammen in Bangladesch und anderswo leistet, in Frage stellten. Die Bevölkerungspolitik-Kritikerin Susanne Heim, die jeden Versuch eines Staates, auf das regenerative Verhalten der Individuen Einfluß zu nehmen, prinzipiell ablehnt, verwies unlängst darauf, die Erde könnte nach Studien der Food and Agricultural Organisation (FAO) 15 Milliarden Menschen ernähren. In welchem Ausmaß dann Böden und Wasser durch chemische Landwirtschaft vergiftet würden, und wieviele bislang noch unberührten Gebiete dafür „kultiviert“ werden müßten, fragt sie lieber nicht.

Naiv ist Heims Vorstellung, daß die inzwischen mehr als fünf Milliarden Individuen sich als kollektoide Spezies begreifen und die Zahl ihrer Kinder — oder aber auch ihren Energieverbrauch — nach den globalen ökologischen Erfordernissen bestimmen werden. Das vorherrschende Verhaltensmuster wird vielmehr von der „kognitiven Dissonanz“ geprägt bleiben, dem Widerspruch zwischen Einsicht in die Notwendigkeit und Verdrängung derselben, um individuellen, egoistischen Interessen nachzugehen.

Mögen die Motive, gegen Familienplanung zu opponieren oder die vielen existierenden Programme zu sabotieren, nicht nur zynische, sondern wohlmeinende sein — in jedem Fall bedeuten sie Leid und Tod für zahllose Frauen in der Dritten Welt. Sie bewahren Verhältnisse, in denen die Mehrzahl der Frauen des Südens zu Gebärmaschinen herabgewürdigt sind, deren einzige Chance gesellschaftliche Anerkennung zu finden, darin liegt, möglichst viele männliche Nachkommen zu produzieren.

Wie UNICEF in seinem Jahresbericht 1992 State of the World's Children feststellte, könnte Familienplanung das Leben von einem Viertel bis einem Drittel der rund 500.000 Frauen retten, die jährlich im Zusammenhang von Schwangerschaft oder Geburt sterben — und auch das Leben vieler der 150.000 Frauen, die jährlich an den Folgen einer illegalen Abtreibung sterben. Familienplanung könnte es den Frauen ermöglichen, sich besser ausbilden zu lassen und dadurch mehr ökonomische Unabhängigkeit zu erreichen. Familienplanung könnte aber auch einen guten Teil jener Millionen von Kindern retten, die sterben, weil ihre Mütter zu Risikogruppen gehören, beispielsweise jünger als 18 oder älter als 35 sind oder schon vier Kinder haben.

UNICEF berichtet, daß eine von drei Schwangerschaften in der Dritten Welt unerwünscht sei. Ein World fertility survey der Vereinten Nationen und etliche andere Studien haben ergeben, daß es mindestens 300 Millionen Frauen respektive Paare in der Dritten Welt gibt, die die Zahl ihrer Kinder gerne begrenzen würden, wenn ihnen die dazu notwendigen Informationen und Verhütungsmittel zur Verfügung stünden. Diese Bedürfnisse werden nicht erfüllt, weil Regierungen in der Dritten Welt noch nicht wirkungsvoll genug Familienplanung propagieren und oft, weil dafür schlicht das Geld fehlt. Die Industrienationen wenden nur ein Prozent ihrer staatlichen Entwicklungshilfe für die Familienplanung auf.

Es geht darum, Familienplanung als universales Menschenrecht durchzusetzen. Jedes Paar auf dieser Welt soll die Möglichkeit haben, die Zahl seiner Kinder selbst zu bestimmen. Warum sollten Europäer dies können, aber Afrikaner nicht?

Wenn dieses Menschenrecht akzeptiert ist, beginnt die zweite, kompliziertere Diskussion. Wie läßt sich Familienplanung erfolgreich propagieren — und welche sind die gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen sie Erfolg haben kann? Konzepte zur Überwindung der Armut — das heißt: eine radikale Reform des Weltwirtschaftssystems — müssen diskutiert werden. Und was noch wichtiger ist: Inzwischen sind sich alle Expertinnen und Experten darin einig, daß die Verbesserung des Status der Frau der Schlüssel zum Erfolg ist. Die Lage der Frauen ist wesentlich wichtiger als die Religion. So erklären die Ulamas, die höchsten moslemischen Religionsgelehrten seit 15 Jahren, daß der Koran Verhütung keineswegs untersage, doch die Geburtenraten in der islamischen Welt fallen kaum. Gleichzeitig verbietet der Papst den Gebrauch jeglicher Verhütungsmittel, doch in Südamerika finden sie immer mehr Verwendung.

Nicht nur bessere Bildung und Chancen für Frauen, auch die Senkung der Kindersterblichkeit, die Einführung von staatlicher Altersversorgung und wirtschaftliche Entwicklung sind andere wichtige Bedingungen für die Entschärfung der „Bevölkerungsbombe“.

Auf der großen Umweltkonferenz in Rio wird all dies jedoch höchstens am Rande zu Sprache kommen. Die Allianz der Ignoranz hat verhindert, daß der Begriff „Familienplanung“ überhaupt in den inzwischen fertiggestellten Dokumenten auftaucht

In Rio wird deshalb ein brauchbares Programm für den kollektiven Selbstmord der Spezies Mensch verabschiedet werden. Michael Sontheimer