Rio-Dokumente als Patchwork-Muster

Frauenpolitik und Umweltgipfel/ Kritik am Ausklammern der Bevölkerungspolitik/ Das Beispiel Brasilien/ Gespräch mit Thais Corral von der regierungsunabhängigen Organisation REDEH  ■ Von Karin Flothmann

Berlin (taz) — „Die Dokumente, in die ich Einsicht nehmen konnte, hinterlassen bei mir den Eindruck eines Patchwork-Musters.“ Mit diesen Worten charakterisiert Thais Corral jene Hunderte von Papieren, die zur Vorbereitung des Umweltgipfels in Rio erstellt wurden. Als Mitarbeiterin der regierungsunabhängigen Organisation „REDEH“ (Rede de Defesa da Especie Humana) in Rio de Janeiro setzt Thais Corral sich für die Interessen von Frauen auf dem Umweltgipfel ein. Gleichzeitig bereitet sie zusammen mit der brasilianischen Women's Coalition die Gegenveranstaltung zum Gipfel in Rio vor, den „Global 92“, der zeitgleich zum UNCED-Ereignis stattfindet. Hier sammeln sich die verschiedenen regierungsunabhängigen Organisationen unter einem Dach. Jeder Tag des „Global 92“ wird unter einem Motto stehen: So gestalten REDEH und die brasilianische Frauen-Koalition beispielsweise einen Tag zum Themenkomplex Bevölkerungspolitik.

Die Interessen von Frauen wurden bei den ersten vorbereitenden UNCED-Sitzungen sträflich vernachlässigt. Im November vergangenen Jahres trafen sich daher 1.500 Frauen aus 90 Ländern in Miami, um im Verlauf des „World Women's Congress for a Healthy Planet“ ihre Interessen zu definieren. Die in Miami verabschiedete „Frauen- Agenda 21“, die mittlerweile in Auszügen auch Eingang in die Dokumente des Umweltgipfels gefunden hat, beschränkt sich nicht nur auf sogenannte frauenspezifische Forderungen. Es geht vielmehr im wahrsten Sinne des Wortes ums Ganze. Denn dieser Kongreß saß über den Gesamtzusammenhang von Wirtschaft, Politik und Umweltzerstörung zu Gericht.

„Der Schlüssel für die Umweltproblematik liegt im Entwicklungskonzept des Nordens, das Wachstum und Konsumismus zum Modell für die ganze Welt macht“, faßte Peggy Antrobus, Wissenschaftlerin aus Barbados, das Ergebnis von Miami zusammen. Der rote Faden der „Frauen-Agenda 21“ ist der Ruf nach einer neuen Ethik im Umgang mit der Natur; eine neue Moral des Produzierens, Handelns und des Konsums. Entwicklung werde in der herrschenden Vorstellung auf Wirtschaftswachstum reduziert, Konsum erscheine als menschlicher Glücksgarant schlechthin, umreißt Corral das dominierende patriarchale Konzept. Geld und Waren haben Vorrang vor Menschen und der Natur.

Für die meisten Frauen hat jedoch die Befriedigung der Grundbedürfnisse Priorität. Bisherigen Entwicklungsmodellen ist es nicht gelungen, diese zu garantieren. Vom Umweltgipfel erwarteten sich die Frauen in Miami keine umwerfenden Ergebnisse. Ihre Hoffnungen setzten sie in den Diskussionsprozeß, der, ausgelöst durch den Gipfel, nun weltweit angelaufen ist.

Eingang in die Dokumente von Rio fanden auch einige Sätze der „Frauen-Agenda 21“ zum Komplex der Bevölkerungsentwicklung und der geforderten Familienplanung. Dennoch haben Bevölkerungsfragen keinen eigenen Platz auf dem Gipfel, dafür ist die Thematik, wie's scheint, zu komplex. Die UNO plant zu diesem Thema einen gesonderten Kongreß für das Jahr 1994.

Auf der Suche nach Schuldigen für den drohenden Ökokollaps wird allerdings trotzdem gern auf einfache Erklärungsmuster zurückgegriffen: Die wachsende Bevölkerung der südlichen Kontinente soll für Umweltzerstörung und Ressourcenverknappung, aber auch für die weltweit zunehmende Verarmung verantwortlich sein. Bevölkerungspolitik, wie sie im Zusammenhang mit Entwicklungshilfekonzepten den Ländern des Südens angepriesen wird, ist laut Corral bisher immer ein Instrument der Bevölkerungskontrolle gewesen.

„Brasilien ist ein gutes Beispiel für die Auswirkungen dieser Kontrollpolitik. Gleichzeitig liefert der ,Fall Brasilien‘ gute Argumente gegen die populäre Meinung, man könne Armut und Umweltzerstörung mit planmäßiger Bevölkerungskontrolle entgegenwirken“, meint Corral. Denn in den letzten 20 bis 30 Jahren wurde in Brasilien ein angeblich „erfolgreiches“ Programm zur Bevölkerungskontrolle durchgeführt.

Regierung und private Organisationen stellten der Öffentlichkeit allerdings keine Informationen über die Vielfalt möglicher Verhütungsmittel zur Verfügung, sondern propagierten als einziges Mittel die Sterilisation von Frauen. Das führte dazu, daß vielen Brasilianerinnen nur die Sterilisation als Möglichkeit der radikalen Empfängnisverhütung bekannt ist. Mit Kondomen assoziieren Frauen teilweise nur die Aids- Vorsorge. Nach Angaben des brasilianischen Gesundheitsministeriums haben sich mittlerweile zwanzig Prozent aller brasilianischen Frauen im gebährfähigen Alter sterilisieren lassen — insgesamt 7,5 Millionen. Die große Mehrheit sind Schwarze. Ein „indirekter“ Zwang zur Sterilisation besteht häufig schon, wenn Frauen ein Beschäftigungsverhältnis beginnen wollen. In Rio de Janeiro sind die beiden Unternehmen „Metalurgica“ und die Getränkefirma „Mineirinho“ dafür bekannt, daß sie von verheirateten Frauen Sterilisationsatteste verlangen, um die vier Monate Mutterschaftsurlaub zu umgehen. Sterilisation wurde und wird als schnelle und äußerst wirksame Methode der Geburtenkontrolle propagiert. Die Folgen dieser Politik lassen sich in weiteren Zahlen ausdrücken: In den letzten 20 Jahren nahm die Zahl der Geburten in Brasilien um 50 Prozent ab. Lag die Anzahl der Kinder pro Familie 1970 noch bei durchschnittlich 5,2 Kindern, so ging sie bis heute auf 2,3 Kinder pro Familie zurück. Nach der gängigen Argumentation, die Armut, Umweltzerstörung und Bevölkerungswachstum in kausalen Zusammenhang zueinander stellt, müßte Brasilien in den letzten 20 Jahren also eine Entwicklung zum Positiven genommen haben. Doch das Gegenteil ist der Fall.

„In meinem Land gibt es heute wesentlich mehr Arme als noch vor zwanzig Jahren“, kommentiert Corral. Und auch die Umweltzerstörung hat nicht abgenommen, sondern steigt von Jahr zu Jahr; vor allem das Amazonasgebiet ist selbst in Deutschland in aller Munde. Daß sich dahinter rein wirtschaftliche Interessen verbergen, daß letztlich der gesamte Gipfel darauf abzielt, über die Entwicklungshilfe neue Technologien im Kampf gegen die Umweltschäden einzuführen, das erregt die Mitglieder der brasilianischen Organisation REDEH. Sie drängen auf eine wesentlich komplexere Diskussion, die, wie in Miami beschlossen, vor allem auch ethische Aspekte der globalen Entwicklung in den Vordergrund stellen soll.

„So langsam muß die Menschheit doch begreifen, daß dieses System uns nicht guttut. Wir müssen diese Entwicklung stoppen“, appelliert Thais Corral an den gesunden Menschenverstand, „wir müssen aufhören, Teil dieser gigantischen Maschinerie des Wachstums und Konsums zu sein.“