Kein Ausverkauf des Erbguts

Indien lehnt es ab, die Genvielfalt seiner Pflanzen, die in Jahrtausenden gepflegt wurde, von Pharmakonzernen kostenlos ausbeuten zu lassen.  ■ AUS NEU DELHI BERNHARD IMHASLY

Chhattisgarh findet man in keinem Reiseführer. Es ist eine typische Region im indischen Herzland mit fruchtbaren Böden und armen Menschen — abseits der großen Routen, also kein Thema für die Zeitungen, kein Thema für den Erdgipfel in Rio. Oder doch? Chhattisgarh ist immerhin altes Kulturland, das die Bauern seit Jahrtausenden bearbeiten. Jahraus jahrein beobachten sie die Veränderung der Böden. Sie kennen die langen Zyklen von Regen und Sonnenschein, die Schwankungen der unterirdischen Aquifere, die Krankheiten und Plagen, die das Land periodisch überziehen. Lange Zeit, bevor die Zivilisation den Norden der Erdkugel erfaßte, wurden hier Fruchtbäume, Futterpflanzen, Ölsaaten, Gemüse, Gewürze — und verschiedene Reissorten angebaut. Es sind Reissorten, die sich genetisch herausgebildet haben, Resultat der Jahreszeiten und langfristiger Klimazyklen, Produkte geduldiger Beobachtung und Selektion über Generationen von Landarbeitern.

Dr.R.H. Richharia, ein indischer „Reis-Genetiker“, hat herausgefunden, daß in Chhattisgarh allein 18.000 Sorten und Subsorten von Reis zu finden sind. Sie sind das genetische Vermächtnis tausender Jahre von Agrartechnologie. Die Konvention über Artenvielfalt, die am Erdgipfel von Rio verabschiedet werden soll, hat den Zweck, eben diesen Reichtum zu retten (siehe auch nebenstehenden Kasten), zumindest als Gen-Information in Computersystemen. Doch das Motiv ist nicht nur pietätvolle Konservierung von pflanzlichem Erbgut, das unwiederbringlich ist. Mit der Industrialisierung der Landwirtschaft, der Konzentration auf wenige Sorten, biotechnologischen Eingriffen und der chemischen Beeinflussung des Anbauprozesses ist das Bewahren auch unter ökonomischen Gesichtpunkten sinnvoll. Dafür ein Beispiel: Als in den 70er Jahren eine unbekannte Krankheit von Indien bis nach Indonesien Hunderttausende von Hektar Reis zerstört hatte, fand ein Botaniker in Madjya Pradesh eine Sorte von wildem Reis, die resistent schien. Er sandte sie ins Internationale Reisforschungsinstitut in den Philippinen, und über dieses wurde die Sorte „Oryza Nivara“ in über 30 Ländern eingeführt — mit Erfolg.

Arme Länder wie Indien haben allerdings nicht die finanziellen Ressourcen, die genetische Vielfalt ihrer Pflanzenwelt vor ihrer allmählichen Ausrottung zu schützen. (Zu schnell geht die Entwicklung neuer Anbaumethoden, zu tiefgreifend sind die sozialen und demographischen Veränderungen.) Indien hat nicht einmal die Möglichkeit, diesen Reichtum zu katalogisieren. Es steht, nach den Worten des Journalisten Darryl d'Monte, „vor der drohenden Möglichkeit, nicht einmal zu wissen, welchen Reichtum es verliert“.

Die Konvention über die pflanzliche Artenvielfalt soll deshalb zu Hilfe kommen, mit einem Fonds der reichen Länder. Mit seiner Hilfe will man die unausweichliche Ausrottung verhindern.

Dennoch hat Indien, im Vorfeld des Erdgipfels, beschlossen, die Konvention abzulehnen. Warum? Die Begründung für diese zunächst unverständliche Haltung zeigt, wie stark viele Entwicklungsländer die Umweltagenda von Rio als ein von den Interessen des Nordens geleitetes Diktat betrachten. Denn die Bereitschaft der reichen Länder zu finanziellen Gesten ist nicht etwa gratis. Der Preis ist die unschuldig daherkommende Deklaration, daß der „Reichtum des pflanzlichen Erbgutes Teil des globalen Erbes“ ist. Mit anderen Worten: Er gehört nicht etwa den Ländern, in denen diese pflanzlichen Gen-Banken seit Jahrtausenden angesiedelt und gepflegt werden. Vielmehr können diese von allen, die sich dafür interessieren, genutzt werden.

Dazu gehören keineswegs nur kuriose Botaniker mit Sammelbüchsen und besorgte Umweltschützer. Die Wahrscheinlichkeit ist größer, daß da plötzlich Namen wie Shell, Monsanto, Ciba-Geigy, ICI oder Bayer auftauchen. Sie stellen die Weltspitze jener Firmen dar, die ihre Geschäftsbereiche von Pestiziden und Düngemitteln allmählich rückwärts zu Saatgut und von da zur biogenetischen Manipulation zu integrieren trachten. Dafür ist es wichtig, Zugang zu den reichen pflanzlichen Gen-Banken der sog. Dritten Welt zu haben. Sie bilden den Rohstoff der biotechnologischen Industrie. Aus ihm können in den nächsten Jahrzehnten immer mehr neue Produkte — Nahrungsmittel, Kleidungsstoffe, Medikamente, Kosmetik — hergestellt und verkauft werden.

Globalisierung der natürlichen Ressourcen

Soll dieser potentielle Reichtum, so fragen die Entwicklungsländer, nun unter dem harmlosen Etikett „Erbgut der Menschheit“ dem erstbesten Interessenten gratis überlassen werden? Einem Interessenten notabene, dem es vor allem um die handfeste Vermarktung seiner „Downstream“-Produkte geht?

Es ist nicht nur diese elegante und kostengünstige Form der Vermarktung, welche die Arten-Konvention in den Augen Indiens suspekt macht. Ihre Ungerechtigkeit zeigt sich in aller Schärfe erst, wenn man der freien Verfügbarkeit des pflanzlichen Genmaterials den Eigentumsschutz entgegenhält. Denn den beanspruchen die Firmen mit ihren Derivaten. Während die Pflanzen gratis abgegeben werden sollen, werden die Verfahren und Produkte teuer verkauft. Was dabei herauskommt: Globalisierung der natürlichen Ressourcen, Privatisierung der abgeleiteten biotechnologischen Prozesse und Produkte. Bei der UNCED in Rio wird der biologische Reichtum des Südens weltweit zugänglich gemacht. Während nebenan, in der Uruguay- Runde des GATT, biotechnologische Verfahren dem Patentzwang unterworfen werden.

Die indische Regierung, beziehungsweise ihr Umweltminister, lehnt deshalb die Charakterisierung der Pflanzenvielfalt als „gemeinsames Ergbut der Menschheit“ ab. Das gelte solange, bis der Süden präferentiellen Zugang zu Biotechnologien erhalte — eine Forderung, welcher der Norden nicht nachgeben will. Schließlich handele es sich um „private Eigentumsrechte“.

Die indische Umweltgruppe Kalpavriksha — der „Wunschbaum“ — geht in ihren Forderung sogar noch weiter: Sie anerkennt, daß die biotechnischen Verfahren privater Firmen Kosten verursachen und deshalb bezahlt werden müssen. Aber wie steht es dann mit den Bauern von Chhattisgarh? Sind nicht auch sie Biotechniker, die von Generation zu Generation in den Labors ihrer natürlichen Umwelt „geforscht“ haben, von Hungersnöten und Plagen gelernt, Monsume und Trockenperioden beobachtet haben, wilde Sorten domestiziert, andere verwildern ließen? Ist das Resultat dieser jahrtausendelangen Tests — 18.000 Reissorten — nicht mehr wert als ein Gratismuster für einige große biotechnologische Firmen?

Für Indien, so Darryl d'Monte, läuft zwischen Biodiversifikation und Biotechnologie eine Nabelschnur: Wenn das eine „gemeinsames Erbe der Menschheit“ ist, warum soll es für die Früchte dieses Erbes auch noch bezahlen müssen?