Theater muß wie eine gute Pizza sein

■ Der Schauspieler Ignaz Kirchner über Theater, Tabori und sein Engagement am Deutschen Theater

Zur Person Ignaz Kirchner:

»Ich bin gelernter Verlagsbuchhändler. Mußte das lernen, weil meine Eltern das wollten. Und dann bin ich Schauspieler geworden. Wenn ich nicht Theater spielen würde, dann wär' ich entweder Penner, Alkoholsüchtiger oder in einer Irrenanstalt. Ich hab' mir einen Freiraum geschaffen, mich äußern zu können, mich zu verwirklichen. Es gab in Berlin einen wunderbaren Mann, der hieß Erich Mühsam, und der hat einmal über Künstler gesagt: Die Aufgabe des Künstlers ist es, leidenschaftlich am Leben teilzunehmen und diese Leidenschaft in seiner Kunstsparte zum Ausdruck zu bringen. Wenn man das versucht, das reicht schon. Und macht Spaß und ich bekomme noch Koh... ich werd' noch dafür bezahlt, gut, fürstlich bezahlt.«

Wien ist Meckiland

taz: Herr Kirchner, Sie sind ja nicht zum erstenmal in Berlin. Wie gefällt es Ihnen denn heute hier?

Ignaz Kirchner: Ich finde, daß Berlin im Moment so aufregend ist, daß es mich was angeht. Als nach dem Krieg Geborener hab' ich das erstemal das Gefühl, daß ich hier sinnbildlich etwas aufarbeiten kann. Es ist sensibel hier im Gegensatz zu Wien. Berlin ist eine realistische Stadt. Im Moment sogar überrealistisch. Deswegen komm' ich jetzt hier hin.

Fällt es Ihnen leicht, die Arbeit mit Claus Peymann und Ihrem Kollegen Gert Voss aufzugeben?

Es ist Kollege Voss, den ich aufgebe. Ich hab' gestern ein Interview abgebrochen, weil die dritte Frage der Dame war, ob ich zu Voss ein Neidverhältnis habe. Ich hab' diese Fragen bis hier. Wir sind gute Freunde. Und der Voss und ich sind ganz tolle Partner, die aufeinander reagieren können, und das ist was ganz Seltenes. Trotzdem sind wir Konkurrenten. Das ist uns bewußt, aber das steigert das Zusammenspiel. Man weiß, man muß zusammen spielen und zusammen leben. Das ist alles die gleiche Soße. Den Orgasmus bekommt man, wenn er gut ist, auch nur zusammen. Wenn er nur gespielt ist...

... ist die Gemeinsamkeit noch mal so wichtig.

Ja, und darum ist das mit Voss eine ideale Paarung. So viel haben wir allerdings nicht zusammen gespielt. Jack Lemmon und Walter Matthau haben vierunddreißig Filme zusammen gemacht, und der Voss und ich vielleicht sechs Stücke. Aber der wird auch bald hier sein. Ich sag' das mal so. Der Zadek lockt ihn. Und der Peymann macht auch einen Fehler, wenn er weiter in Wien bleibt. Wenn einer ein Theater hier verdient hätte, dann wäre es der Peymann. Spätestens in drei Jahren ist der auch hier.

Haben sie das Gefühl, in Wien etwas aufgegeben zu haben?

Wien ist Disneyland oder Meckiland. Die Wiener sind so theaterbegeistert, weil sie nichts anderes haben, aber sie sind eben auch so geschwätzig. Das find' ich dann schon wieder gefährlich. In den Abendnachrichten kommt erst eine Meldung über Peymann und dann kommt Bosnien-Herzegowina. Da hat sich was verschoben und ist nicht in Ordnung. Aber dieses Meckiland wird sich auch verändern. Noch sind da die Grenzen absolut zu. Aber die Tschechoslowaken, die Ungarn werden da hinkommen, und dann wird dieses Meckiland auch nicht mehr so wirtlich sein, sondern so unwirtlich wie Berlin: das ist die Realität, mit der wir leben müssen und in der wir abgeben müssen. Ich sag': richtig abgeben. Ich, als Besserverdiener, könnte zwanzig Prozent meines Gehaltes abgeben. Dann muß man sich überlegen, wieviel Prozent zum Beispiel Firmen abgeben könnten. Und da ich nicht weiß, wo ich das hingeben kann... Ich hab' keinen moralischen Tick. Oder ich hab' einen. Tick heißt wunderliche Eigenart.

Berliner Gefühlsstau

Welche Gründe hat es noch, daß sie so unbedingt nach Berlin kommen wollten?

Ja, das hat viel damit zu tun, daß hier auf einmal die Mauer gefallen ist. In meinem Reisepaß steht Deutscher: Man konnte vor der Wende nicht ans DT gehen oder ans BE gehen oder an die Volksbühne, wenn im Reisepaß Deutscher stand. Da hätte ich eine Holländerin heiraten müssen oder eine Österreicherin, um da engagiert zu werden.

Das hört sich durchaus so an, als hätten Sie schon vor der Wende mit dem Gedanken gespielt rüberzugehen?

Ich war in Berlin schon 1973. Da hab' ich ein Jahr bei Hübner an der Freien Volksbühne gespielt. Und ich war fast jeden, an jedem zweiten Tag drüben und fand das Theater, das die da gemacht haben, das Spannendste, was es überhaupt gab. Noch spannender als das Theater von Stein. Ich wollte dahin gehen, aber die hätten mich doch gar nicht genommen. Oder ich hätte die Staatsbürgerschaft annehmen müssen — und das kam nicht in Frage. Ich wollte auch immer wieder aus diesem Land raus können. Dann sind Sie jetzt also dabei, sich einen alten Traum zu erfüllen?

Ganz genau so... Hoffentlich wird das kein Alptraum. Könnte sein. In Berlin nehm' ich mir zum erstenmal jetzt wieder eine Wohnung. Sechs Jahre habe ich in Wien im Hotel gelebt, weil meine Frau und ich in Bremen leben.

Wollen Sie im Ostteil wohnen?

Nee, ich nehm' mir im Westteil der Stadt eine Wohnung. Weil ich es im Ostteil — im Moment — noch nicht aushalten kann. Ich brauch' einen Laden, wo ich mein Vollkornbrot bekomme, wo ich mein Gemüse bekomme und meine Zigaretten. Und da muß ich drüben ja Kilometer gehen. Ich hab' da noch keine Reformhäuser gesehen. Und keine alternativen Läden. Außerdem kann ich das Grau noch nicht so aushalten. Ich hoffe, daß auch die Gesichter nicht so grau werden.

Es gibt Gefühlsstaue. Ich hab' viel gelesen über die Stadt. Ich bin informiert über dieses Land. Früher haben wir ja auch Marx gelesen und Engels und Lenin, heute müßte man eher wieder Stefan Heym lesen und Hans Mayer, um zu sehen, wie die Strukturen da sind. Ich finde das Buch von Joachim Maaz (Der Gefühlsstau, d. A.) ganz nett, aber das ganze nur an der Psychoanalyse aufzuziehen, ist doch auch langweilig. Das ist der Miniaspekt von Herrn Maaz. Ein ganz kleiner Miniaspekt.

Herzensangelegenheit

Sie haben jetzt als Einstieg in den Kammerspielen des DT die »Rede an den kleinen Mann« von Wilhelm Reich gehalten und die »ELLA« von Achternbusch gespielt. Wollten Sie das Berliner Publikum vorab kennenlernen?

Ja, testen. Es gibt drei Sachen, die ich kennenlernen muß: die Zusammensetzung des Publikums, die Reaktion des Publikums und die Presse. Ich hab' die beiden Monologe fast in allen größeren deutschsprachigen Städten gespielt. Da können Sie sehr gut sehen, seismographisch sehen, wie das ankommt.

Und wie fühlten Sie sich damit in Berlin?

Gut. Ich spiel' das auch weiter, vorerst noch in den Kammerspielen. Aber ich will die Monologe später im Foyer machen, weil die Eintrittspreise billiger sein sollen. Das ist so zu teuer. Die teuerste Karte am DT kostet im Moment 43 DM: Das ist eine Perversität. Ich war vorgestern in einer Aufführung am DT und hab' von dem westdeutschen Autor Pohl den Karate-Billi gesehen, von ehemaligen DDR-Schauspielern gespielt. Zu achtzig bis neunzig Prozent saß ein westdeutsches Publikum im Theater. Als Kind hätte man gesagt, das ist verkehrte Welt. Da wird auf einmal gelacht über ein Problem... so geht das nicht! Im Foyer kann ich wenigstens für 10 DM spielen. Man kann auch vor dem DT spielen und die Zuschauer in die Fenster setzen, wenn schönes Wetter ist. Da muß man ein bißchen variabel sein.

Das klingt ja sehr ambitioniert...

Ich hab' in den sechziger Jahren auf dem Wagen gestanden und Lieder gesungen und Reden gehalten und über mir hingen als Emblem Marx, Engels, Lenin, Stalin, Mao Tse-tung. Ich hab' jede Woche die 'Peking-Rundschau‘ gelesen und wirklich dazu gestanden. Damals. Ich hab' da oben unter Stalin gestanden und gleichzeitig die Faust geballt und »Vorwärts! Nicht vergessen!« gesungen. Aber der größte Feind war der Imperialismus der Sowjetunion und nicht der Imperialismus Amerikas. Da habe ich einen Fehler gemacht. Und so gibt's viele Menschen, die einen Fehler machen.

Und heute?

Ich bin da vorsichtiger geworden und — wie ich hoffe — genauer. Die beiden Monologe sind meine Meinung. Wilhelm Reich haben wir damals wiederentdeckt. Das ist ja so ein Mann gewesen, der 1928 hier gearbeitet hat, das Gesundheitsprogramm der KPD gemacht hat, dann aus dieser Partei rausgeschmissen wurde und immer weggehen mußte. Der Text ist mir eine Herzensangelegenheit und eine Kopfangelegenheit. Wenn wir danach handeln würden, dann sähe unsere Welt schon ein bißchen besser aus. Ich hab' den Reich mal in Hof gemacht, in der Stadthalle, und da hat mich der Stadtrat eingeladen, weil ich zu der Zeit an den Münchner Kammerspielen war. Sie haben gedacht, sie bekommen ein billiges Gastspiel von einem Mann, der gut ist. Aber es waren lauter CSU-Menschen in der Vorstellung, und die haben nach einer halben Stunde den Saal verlassen. Hinterher waren nur noch ein paar Junge da. Vielleicht sechzig oder siebzig. Ich hab' weitergespielt, und es hat sich gelohnt. Die Stadtverordneten wollten mich eigentlich zum kalten Buffet einladen. Das wurde dann abgesagt. Ich saß mit den jungen Menschen in dieser CSU-Stadt Hof und hab' mit denen geredet. Da erreicht man dann was, das weiß ich. Die CSU-Leute kann man nicht erreichen, die sind zu eng im Kopf.

Tabori im Rolls-Royce

Kommen wir doch jetzt zu ihrer Arbeit mit Tabori... Sie haben ja schon früh in der Gruppe von Tabori...

... Wo Sie gerade »Gruppe« sagen: bei Gruppe werde ich ganz allergisch, ich mag keine Gruppen.

Sind Sie Einzelgänger?

Nein, überhaupt nicht. Aber ich mag keine Gruppen. Wenn Sie jetzt Menschen vom Tanztheater interviewen, die sagen Ihnen auf einmal »Truppe«, meine Truppe.

Also Truppe...

Ach, Truppe ist noch viel schlimmer als Gruppe. Man kann jemand durch die Sprache, die er benutzt, ungeheuer gut einschätzen. Wenn mir jemand gegenüber säße und der würde immer von der »Unnatur« reden, dann wüßte ich schon, was los wäre. Es gibt keine Unnatur. Oder »Untaten«: Manche Menschen sagen »die Untaten des Nationalsozialismus«. Das gibt es nicht. Es gibt nur Taten. Nein, ich mag keine Gruppen. Ich will mit verschiedenen Menschen zusammen sein, aber nicht mit einer Gruppe.

Wie würden Sie denn sagen?

»Viele einzelne.« Und die sollten sich alle als einzelne entfalten. Vielleicht bin ich auch übersensibilisiert, das kann ja auch sein.

Woher kommt das?

Weil ich mich damit beschäftige. Ich habe auch hier im Hotel Wörterbücher und guck' mir an, wo die Wörter herkommen. Das macht mir Spaß, so den Tag anzufangen.

Mit welchem Wort haben Sie denn heute den Tag begonnen?

Heute? Laune! Das wußte ich gar nicht: das kommt von La Luna, der Mond. Ich bin zwar kein Esoteriker, aber das ist doch seltsam. Das macht jedenfalls Spaß, sogenannte Irre tun das auch.

Basiert Ihre Abneigung gegen das Wort »Gruppe« nicht auch auf Erfahrungen, die Sie vielleicht sogar bei Ihrer Arbeit mit dem frühen Tabori, dem Gruppenguru, gemacht haben?

Als Guru wär' der noch viel besser. Ich sag' ihm immer, als Guru würde er viel mehr Geld verdienen als als Autor oder Regisseur. Stellen Sie sich mal vor, Tabori steigt aus einem Rolls-Royce, und man würde ihm ein Mikrophon hinstellen, und er mit seiner wunderbaren tiefen Stimme, die viele erreicht — das sind die Bässe — (Macht ihn nach)... da hätte er viel mehr Macht als jetzt.

Aber als Regisseur besitzt man auch nicht gerade wenig Macht, zum Beispiel über die Schauspieler...

Die Schauspieler haben auch viel Macht, wenn sie sich dessen bewußt sind. Aber Macht ist ein Scheißwort. Ich hätte Angst davor, Macht zu besitzen, weil ich damit auch nicht umgehen könnte. Ich sag' immer, der Tabori braucht starke Partner, die ihm widersprechen. Wenn eine Gruppe [Hah! Erwischt! d. säzzer] Autoritäten nicht andauernd in Frage stellt, nur hinnimmt, dann wird es für mich grauenhaft, sogar gefährlich.

Anarchie und Pizza

In den »Goldberg-Variationen« spielen Sie den Inspizienten, den »Handlanger« des autoritären Gott- Regisseurs auf eine gleichermaßen unterwürfige und anarchistische Weise.

Tabori kennt mich schon sehr gut inzwischen und schreibt danach auch die Stücke. Sie haben gesagt Handlanger. Ich würde eher Assistent sagen. Der ist aber noch mehr als ein Assistent, weil er versucht, sich gegen den Kopf mit seinen Mitteln zu wehren. Das ist das Spannende an dem Stück, daß der Tabori da eine Metapher geschrieben hat. Wie der normale Mensch, der sich gegen den Chef durchsetzen muß. Und das ist ein Jude, das ist ganz wichtig. Ich denke sowieso, daß mehr Anarchie ins Theater müßte. Und ins Leben.

Im Stück hat das die Konsequenz, daß Sie am Ende den allmächtigen Regisseur von der Bühne werfen.

Ich sage in dem Moment aber auch: Ich habe gerade die Liebe erfunden...

Wenn ich mir überlege, Tabori wird 79 Jahre alt: wenn Sie sein Stück lesen, dann könnte man denken, es wäre von einem ganz jungen, mutigen Menschen. Theater muß so spannend sein wie gutes Kino. Sonst geht keiner mehr hin. Eine Frau aus der ehemaligen DDR hat mir erzählt, daß sie im Moment gar keine Lust hat, ins Theater zu gehen: Sie würde viel lieber Pizza esen und Wein trinken. Das wär' für sie spannender. Da sag' ich mal: Theater muß eben wieder so spannend sein wie eine gute Pizza.

Können Sie nachempfinden, daß jemand so etwas sagt?

Ja, gut. Wir haben die Aufgabe, das Theater wieder so spannend zu machen wie 'ne richtig gute Pizza. Die muß dann aber auch preiswert sein. Für die teuerste Karte im DT kriegen sie zwei gute Pizzen und einen halben Liter Frascati.

Mundpropaganda

Wie wäre es, den Reich in einer Pizzeria zu spielen?

Das mach' ich, ich spiel' die Monologe in Wohnungen, Irrenanstalten und Gefängnissen. Man braucht für Theater eigentlich nur einen Raum und Menschen, die dahin kommen.

Ganz so einfach ist heute ja nicht mehr, die Menschen ins Theater zu bringen. Es gibt selbst in großen Häusern atemberaubend schlechte Platzausnutzung.

Man muß eben gute Pizza machen. Die hat dann auch gute Mundpropaganda. Das Schiller Theater... naja... da gehört der Peymann hin... die jetzt da sind, die können das einfach nicht.

Wär' Peymann denn gekommen, wenn man ihn richtig gefragt hätte?

Die kommen alle irgendwann nach Berlin.

Werden sie auch außerhalb des DT arbeiten?

Ich hab' eine Verabredung mit Kresnick (Tanztheater-Regisseur, zuletzt in Berlin auf dem Theatertreffen mit seiner Inszenierung von Frieda Kahlo, d. A.), an der Volksbühne Rosa Luxemburg zu machen. Den Text schreibt Tabori. Und ich soll den Karl Liebknecht tanzen. Mit Ignaz Kirchner sprachen Reimar Brahms und

Anja Poschen.

Ignaz Kirchner hält am Freitag wieder Die Rede an den kleinen Mann von Wilhelm Reich — 20 Uhr in den Kammerspielen des DT.