Unfall oder Ausländerfeindlichkeit?

■ Mit Schädelbruch in der U-Bahn gefundener 18jähriger Türke liegt seit zwei Wochen im Koma/ Kranzniederlegung der Familie vor dem Roten Rathaus als Protestaktion gegen Gewalt

Berlin. Familie und Freunde von Ümit Kalayci legten am gestrigen Mittwoch einen Kranz mit schwarzem Trauerflor vor dem Roten Rathaus nieder. Der 18jährige Türke war am 23. 5. 92 gegen Mitternacht im U-Bahnhof Ruhleben im letzten Waggon eines Zuges bewußtlos und blutüberströmt von BVG-Angestellten gefunden worden — die Diagnose lautete auf mehrfachen Schädelbruch. Ümit Kalayci liegt seitdem im Koma und schwebt in Lebensgefahr. Die Initiatoren der Kranzniederlegung interpretieren den Vorfall als ausländerfeindliche Aktion und vermuten den oder die Täter im rechtsradikalen Milieu.

Bestätigt wird dieser Verdacht durch Dr. Specht vom Klinikum Steglitz, der gegenüber Verwandten die Verletzungen »mit aller Wahrscheinlichkeit auf externe Gewaltanwendung« zurückführt. Daß es sich bei der kleinen Gruppe, die an diesem Mittwoch die Stufen zum Roten Rathaus erklimmt, nicht um Deutsche handeln kann,ist nicht zu überhören. In der Tradition arabischer Klageweiber schreitet die Mutter des Schwerverletzten, auf den Arm ihres Mannes gestützt, schluchzend und schreiend der Gemeinde vorweg. Den Frauen im Gefolge laufen die Tränen übers Gesicht, betretene Blicke bei den Männern. Was wie eine Trauerfeier für einen bereits Verstorbenen aussieht, ist dabei eher eine Art politische Aktion. Die türkischen Demonstranten wollen auf die zunehmende Bedrohung für Nichtdeutsche in dieser Stadt aufmerksam machen. Das die Verletzungen von Ümit ausländerfeindliche Motive haben, steht für die Anwesenden außer Frage. Dabei bleiben die Hintergründe des Falls mysteriös: ein Freund von Ümit hatte erst fünf Stationen vor Ruhleben den Wagen verlassen. Die übrigen noch anwesenden Fahrgäste waren nach seinen Worten »keine Schlägertypen«. Nach Aussagen von BVG-Personal war Ümit dann im letzten Wagen gesehen worden — allein. Von eventuellen Tätern fehlt jede Spur. Herr Reiber von der Kriminalpolizei hält einen Unfall oder Selbstmordversuch für die wahrscheinlichere Version. »Noch nie was von S-Bahn-Surfen gehört?« kontert er auf entsprechende Fragen. Immerhin fährt die Linie 1 auf den letzten Bahnhöfen oberirdisch. Aber preßt ein junger Türke, der sich bereits telefonisch bei seinen Eltern angemeldet hat, kurz vor Endstation die schwer beweglichen U-Bahntüren auseinander, um aufs Dach zu steigen? Oder gar sich umzubringen? Und fällt, nachdem der Kopf gegen einen Pfeiler geschlagen ist, in den Wagen zurück? Daß noch andere Personen im Wagen waren, erscheint plausibler. »Die Polizei will den Fall vertuschen, damit es keinen Protest gibt«, weiß man im Freundeskreis. »Ümit war ein lebensfroher Mensch und hatte keinen Grund, sich umzubringen.« »Die neue Ausländerfeindlichkeit erfahren wir tagtäglich am eigenen Leib«, klagt Tuncay Akan, 17, ein guter Freund des Oberstufenschülers. »Früher war die Gewalt für mich weit weg, ein Thema aus den Medien. Ich dachte, solange ich mich nicht mit Skins einlasse, geht mich das nichts an. Aber es kommt immer näher. Jetzt hat es meinen besten Freund erwischt.«

»Sein einziger Fehler war, daß er Türke ist,« sagt auch Dudu Kalayci, eine Verwandte des Jugendlichen, mit fester Stimme. »Wir haben dieses Land hier mit aufgebaut. Mit Blumen hat man uns empfangen, jetzt kriegen wir einen Tritt in den Arsch.« Was an diesem Samstag wirklich passiert ist, könnte nur der bewußtlose Ümit aufklären. Jantje Hannover