Kurze Filme über Liebe und Tod

Das 29. Internationale Filmfestival Kraków vom 26. bis 30. Mai 1992  ■ Von Roland Rust

Theoretisch seien die Chancen heutzutage größer, praktisch jedoch kleiner, bringt der Animationsfilmer Jerzy Kucia die paradoxe Situation des polnischen Filmwesens auf den derzeit toten Punkt. Das liege ganz einfach daran, daß noch immer nichts spruchreif sei, nichts wirklich zu Ende gebracht werde. Im Unterschied zu anderen Lebensbereichen bleibe Kultur aber nun einmal auf ein gewisses Grundkapital angewiesen. Doch selbst dieser Minimalbetrag bleibe gegenwärtig aus. Sein Land könne sich eine Filmproduktion finanziell überhaupt nicht mehr leisten, wo derzeit so ziemlich alles am Boden liege. Und dennoch: The show must go on...

Auch das traditionsreiche Kurzfilmfestival im polnischen Kraków— auf dem Kucias jüngste Arbeit Przez pole („Durch das Feld“) in diesem Jahr preisgekrönt wurde — stand schon kurz vor dem Aus. Erst Mitte März kam die endgültige Zusage des staatlichen Filmkomitees, den Fortbestand des 1961 ins Leben gerufenen Filmfestes finanziell abzusichern. Daß in der Kürze der verbliebenen Zeit von den neuen Direktoren Wit Dudek (Chef des Apollo- Filmverleihs) und Maria Malatyńska (künstlerische Leiterin) überhaupt ein Programm auf die Beine gestellt werden konnte, grenzt an ein Wunder.

Ein Mirakel freilich mit allerlei Macken und Makeln, von denen der verspätet und als Loseblattsammlung umherflatternde Katalog noch das geringste Übel war. Zugunsten der Kontinuität um jeden Preis spürbare Einbußen an der Programmsubstanz hinzunehmen fand keinesfalls ungeteiltes Verständnis, und nicht wenige westliche Branchenprofis packten vorzeitig ihre Koffer. Ein Mangel an Solidarität, den das in diesem Jahr unter das reichlich sportive Motto „Europa '92“ gestellte Festival eigentlich überbrücken wollte. Doch was den Osten hoffen läßt, macht den Westen bange: die Alte Welt im Umbruch, mit neuen Nachbarn, geöffneten Grenzen und vielfältigen Berührungen anstelle von Barrieren. Fremde und Ferne, die plötzlich naherücken.

An den Film, der diese Herausforderung am sinnfälligsten thematisierte, vergab die internationale Jury unter Vorsitz von Piotr Kamlar (Polen) einhellig den Hauptpreis, den „Goldenen Drachen“. Flugten til Europa („Bedrängtes Europa“) zeigt die Hilf- und Erbarmungslosigkeit, mit der die Wohlstandsfestung sich vereint gegen den Zuwanderungsstrom aus ärmeren Regionen wappnet. Bis in den letzten Winkel der Erde dringt via Satellit die Kunde vom westlichen Überfluß, an dem vermeintlich jeder teilhaben könne. Ein Magnet, der Demographen zufolge bis zur Jahrtausendwende Millionen und Abermillionen legaler und illegaler Einwanderer anlocken und das Zusammenleben auf dem Kontinent von Grund auf verändern wird. Von Moskau bis Marokko fingen Poul-Erik Heilbuth und Hans Bülow ein Klima der Angst und Ablehnung ein. Zündstoff künftiger sozialer Spannungen. Eine der bedenklichsten Stimmen kam dabei vom Alexanderplatz: Alles, was nicht deutsch ist, sei schlichtweg „zuviel“ und daher fehl am Platze.

Daß der Preissegen auf eine, wenngleich publizistisch ungewöhnlich einfühlsame, knapp einstündige Dokumentation für das (dänische) Fernsehen fiel, macht das Dilemma nicht allein des Krakauer Kurzfilmfestivals deutlich. Der „klassische“ Kurzfilm ist (fast) tot. Im Kino spielt er schon seit langem keine Rolle mehr, abgesehen vielleicht von Werbetrailern. Einst das Experimentierfeld par excellence, ist der kurze Film mittlerweile zur bloßen Fingerübung von Filmstudenten beziehungsweise zum musealen Studienobjekt heruntergekommen. Besonders kraß ist der Einbruch unter (markt)wirtschaftlichen Zwängen im früheren Ostblock. Mit Wehmut gedachte man in Kraków in einem „Nostalgie“-Programmblock der Zeiten, da „kleine“ Meisterwerke von Krzystof Kieślowski (Fabryka), Tomasz Zagadlo (Szkola podstawowa, beide 1971) oder Irena Kamienska (Robotnice, 1980) für hitzige Debatten in vollen Häusern sorgten.

Dahin die Jahre, da das führende Studiokino des Landes, das berühmte „Sztuka“ („Kunst“), mit „schwieriger“ Filmkunst von Schlöndorff, Antonioni oder Cassavetes Box-Office-Hits landete. Vorbei auch die Vitalität der verdienstvollen Flimclubs, die einer nach dem anderen sang- und klanglos verschwinden. Legende auch die landesweit einzigartigen, zweijährigen Filmkurse an der Volksuni. In diesem Jahr gähnten Leere und Langeweile im weiten Rund des Kinos „Kijów“, machte sich unter den wenigen Gästen Katerstimmung breit. Zu viele der insgesamt siebenundsiebzig Wettbewerbsbeiträge aus einundzwanzig europäischen Ländern — wie erstmals im Vorjahr unter Einbeziehung polnischer Produktionen — reproduzierten im Stile der „télévérité“ eine Wirklichkeit, die sich rasch in der Affirmation vertrauter Fakten erschöpfte.

Ehemals „heiße Eisen“ werden inzwischen tagtäglich von der aktuellen Fernsehpublizistik bearbeitet, sei es die Demontage altrevolutionärer Helden (Pomnik czynu... von Dariusz Król und Piotr Biernat) oder der warnende Fingerzeig auf einheimische Skinheads (Oi! von Jery Bogucki). Von den Deportationen unter Zar Nikolaus I. (Rangaistus von Renita und Hannes Lintrop) bis zu den Verschleppungen unter Stalin (Szychta Niewolników von Andrzej Soroczyński) reicht die Aufarbeitung leidvoller Stationen nationaler Geschichte. Auffallend der Hang zum Religiösen, ob in lutheranischer, katholischer oder orthodoxer Spielart.

Selten einmal geriet eine Reportage so spannend wie die über innere Zerwürfnisse und Fraktionszwist der Solidarność von Grzegorz Krolikiewicz. Ein konsequent der Bildsprache vertrauender Film wie Demontage IX — Unternehmen Stahlglocke von Romuald Karmakar — neben den Preisträgern von Oberhausen der einzig nennenswerte deutsche Beitrag — mußte da wie ein Unikum wirken. Schon einmmal, 1988, stieß der 26jährige Münchner das in die Jahre gekommene Krakauer Publikum mit seinem Rekrutenstreich Coup de Boule buchstäblich vor den Kopf. Demontage IX inszeniert eine Performance nach, die zur Jahreswende 1990/91 in einer zerstörten Synagoge in Tiflis realisiert wurde. Zwischen zwei riesigen, von der Decke abgehängten Stahlplatten hängt kopfunter der Aktionskünstler Wolfgang Flatz. Die Hände an einem Seil gefesselt, mit dem ein unter ihm Stehender den hängenden Körper hin und her pendelt, bis zum Aufprall auf die Metallplatten. Ein tanzendes Paar umkreist dazu walzerartig das arachische Ritual des „Unternehmens Stahlglocke“.

Favorit des Publikums, das an vier Festivaltagen wenig zu lachen hatte, war das schrille Minimal-Musical De tranen van Maria Machita des Niederländers Paul Ruven. Ein poppig bunter Alptraum, dem vom Brustkasten bis zum Sargnagel nichts heilig ist. Wieviel Weisheit doch in einem der Schlager zu liegen scheint: „Alles wird anders...“ Aber ob es für den Kurzfilm und sein Festival auch besser wird?