Rio von unten

Ein Einblick in die Realität, von der die Teilnehmer der Umweltkonferenz abgeschirmt werden: Zwei Gespräche mit Favela-Bewohnern aus Rio de Janeiro/ Teil 1 — Carlos über das Überleben in der Legalität  ■ Von Andreas Weiser

Die Avenida Brasil gleicht einer Riesenschlange, die sich durch den Sumpf von Rios Nordzone windet. Sechs-, ja gelegentlich auch achtspurig, mit Abertausenden von Schlaglöchern übersät und eigentlich immer verstopft, ist sie eine der Hauptverkehrsadern des Molochs Rio. Über sie donnern täglich Hunderttausende mit minderwertigem Treibstoff gefütterte Trucks, Pkws und Busse. Eine ätzende, das Atmen zur Qual machende Wolke aus Diesel, Benzin, Alkohol und Staub liegt Tag und Nacht über ihr. Sie pumpt jeden Morgen die Arbeiter der Nordzone in Rios Zentrum und saugt sie abends wieder ab. Sie täglich benutzen zu müssen verlangt mehr als starke Nerven. Für die Avenida braucht man jene Art von Gleichgültigkeit, die einen in Rio vor dem täglichen Nervenzusammenbruch rettet und doch nur das allgemeine Chaos verstärkt. Stinkende Industrieanlagen, Tankstellen, Autowerkstätten, offene Feuerstellen, Militärkasernen, Favelas, Baracken, Staus und, wenn mal freie Fahrt ist, halsbrecherische Überholmanöver. Autowracks, Pannen und, nicht selten am Rande dieses sich Avenida nennenden Monsters, Menschen, die sich hier offensichtlich niedergelassen haben.

Auf ihren Gesichtern statt Verzweiflung Wahn. An einer Unterführung, einer Stelle, an der über der Avenida Brasil mehrere andere Straßen, Auf- und Abfahrten sich kreuzen und übereinanderstapeln; hier an der untersten Stelle jener Straßenkaskade blicke ich vom Inneren unseres Wagens aus einen Augenblick lang einem vor Schmutz starrenden menschlichen Wesen ins Gesicht. Es lacht und winkt. Sein Lachen ist Irrsinn. Der Mann wohnt hier. Hier unten, im Zwielicht einer stinkenden, nie sich lösenden Wolke von Abgasen und zerriebenem Gummi, inmitten ohrenbetäubenden Motorenlärms eines nicht aufhörenden Stromes von Trucks, Bussen und Pkws, ist sein Zuhause. An einen Betonsockel, der eine Autobahnauffahrt abstützt, hat er eine kaputte Couch gestellt, daneben ein zerbrochener Schrank, davor ein Feuer. Und er ist nicht alleine. An vielen solcher Stellen baben sich Menschen, oft ganze Clans niedergelassen. Regelrechte Barackenzeilen quetschen sich in den Zwischenraum, den der Winkel zwischen der Unterseite einer Autobahnauf- oder -abfahrt auf der ebenen Erde freigibt. Je kleiner der Zwischenraum, desto kleiner auch die Hütten. Jeder Zentimeter wird ausgenutzt. Bis hin zu Hütten, in die man nur noch auf dem Bauch kriechend hineinkommt.

Über diese Avenida Brasil hätten sie jetzt alle fahren müssen, um vom International Airport Rio de Janeiro, „Galeao“, zu ihren Hotels und Tagungsorten in der Südzone Rios zu kommen. Allen, den aufgeschlossenen sowie den ignoranten Vertretern jener Diplomaten-, Wissenschaftler-, Politiker- und Journalistenkaste des UNO-Umweltspektakels 92, wäre plastisch vor Augen und Ohren geführt worden, an welch zukunftsträchtigem Ort sie ihr großes Tamtam zur Rettung der Menschheit eigentlich aufführen. Blade Runner mora aqui — hier wohnt Blade Runner — so ein Song über diese Stadt.

Doch diese Chance wurde vertan und statt dessen über jenen Sumpf aus unbrauchbarer menschlicher Masse und Zivilisationsmüll die „Linha vermelha“, die „Rote Linie“ gebaut. Eine Schnellstraße, die die bisher einstündige Fahrt vom Flughafen ins Geschäftszentrum auf eine Viertelstunde verkürzt. Die brasilianischen Politiker, inklusive des Populisten Brizola — derzeitiger Gouverneur des Bundesstaats Rio —, schämen sich des zweiten und eigentlichen Gesichts ihrer „cidade maravilhosa“, jenes 15-Millionen-Molochs, der Groß-Rio mittlerweile ist. Man dürstet nach guter internationaler Reputation und hofft mal wieder auf internationales Kapital. Es gilt einen Ruf zu retten — einen Ruf, den Rio schon lange nicht mehr hat.

Zirka 400 Millionen US-Dollar ließen sich die brasilianischen Behörden diese „Linha vermelha“ kosten. „Mit diesem Geld“, so Erivaldo, Präsident der „Associacao dos moradores da Favela da praia do Ramos“ — Vereinigung der Bewohner der Favela Praia do Ramos — eines direkt an der Avenida Brasil gelegenen Slums —, „hätte man bestimmt 50 Prozent der Favelas Rios sanieren können.“

Die Millionen hätten in den Bau von Kläranlagen gesteckt werden müssen, um das durch die täglich weit über 500 Tonnen stinkender Abwässer versaute Meer vor Rios Stränden zu sanieren. Statt dessen werden die Fäkalien anläßlich von „Eco 92“ statt wie bisher 1.500 Meter nun 2.000 Meter vor der Küste ins Meer gepumt. Schon ein geringer Teil des Geldes, das die „Linha vermelha“ verschlang, wäre für die 40.000 Menschen der Favela da Praia do Ramos die entscheidende Hilfe in ihrem Kampf gegen die drohende Cholera und die weitverbreitete Hepatitis gewesen. Man hätte endlich mit dem Bau der so dringend benötigten Kanalisation beginnen können. Man hätte, man hätte, man hätte. Statt dessen hat man eine Autobahn gebaut. Wohl gemerkt anläßlich einer Konferenz, die angeblich der letztmögliche Umkehrpunkt in der rasanten Talfahrt unserer menschlichen Zivilisation sein soll.

Und nun sitzen sie wieder, jene Berufsdiskutierer, und reden und reden. Diesmal jedoch so nah an jenem apokalyptischen Chaos, das sie immer noch vorgeben verwalten zu können, wie selten zuvor. Aber sie sitzen in vollklimatisierten Tagungskomplexen, werden in cleanen Autos über cleane Highways in ihre vollklimatisierten Hotels gebracht. Sie reden über den Untergang, der uns allen droht, und über das Chaos. Sie kennen das, worüber sie reden, aus Theorien, aber wohl ganz selten nur aus sinnlicher Erfahrung. Sie sind so nah dran an dem, worüber sie reden, und doch so weit entfernt. Eine, wie bereits gesagt, wohl vertane Chance.

Wie aber sehen jene die Welt, die auf der untersten Etage von „Blade Runner City“ leben müssen? Für die schon längst Realität ist, wovor wir uns noch fürchten dürfen. Für die Hunger, Gewalt, Hoffnungslosigkeit und zerstörte Umwelt, für die das Chaos nichts als Alltag ist. Millionen allein in Rio.

Carlos, 23 Jahre alt, Bürobote mit einem Hungerlohn von umgerechnet zirka 120 Mark monatlich, und Parana, 35, Straßenräuber und Ex-Sträfling, leben bzw. lebten auf jener untersten Etage der „Blade Runner“- Realität.

Carlos hat sechs Geschwister. Für zwei seiner Schwestern ist er direkt verantwortlich. Um die jüngste Schwester und den jüngsten Bruder kümmern sich die Schwestern seiner Mutter. Die anderen Brüder, Mingo und Marcello (20 bzw. 18 Jahre alt), leben auf eigene Faust in einer Favela in der Nähe des Friedhofes Katumbi in der Nordzone Rios. Sie leben vom Drogenhandel. Joaos Mutter ist an Aids erkrankt und nicht mehr fähig, sich um die Kinder zu kümmern. Carlos Zuhause ist eine Wellblechbaracke im Zentrum Rios.

Joao, ein Freund Carlos', war, als ich ihn in Carlos' Hütte traf, gerade acht Tage auf freiem Fuß. Hinter ihm lagen acht Jahre in einem Zuchthaus auf der „Ilha Grande“. Mittlerweile, ein Jahr nach meinem Interview mit ihm, lebt er nicht mehr. Erschossen, als zweiter Boß einer Drogenhändlermafia derselben Favela, in der auch Carlos' Brüder aktiv sind. Das Interview mit Joao folgt am nächsten Mittwoch.

Carlos: Bei mir sieht's zur Zeit so aus: 20.000 Cruzeiros pro Monat. Dabei verdiene ich nicht mal 20.000. Da sie etwas abziehen, verdiene ich real nur 18.000. Meine Tante hilft hier im Haus. Aber wir haben trotzdem nichts, das kannst du ja am Zustand unseres Hauses ablesen. Wir sind keine bemittelten Leute. So wie wir hier leben ist würdelos. Es gibt ein Gesetz in unserer Verfassung, nach dem der Mindestlohn ausreichen muß, um menschliches Wohnen und Essen zu gewährleisten und um die Grundbedürfnisse abzudecken. Dieses Gesetz wird nicht eingehalten. Sie also halten sich nicht an die Gesetze, wollen aber, daß du es tust. Das ist das Problem.

Hast du bei deiner Arbeit denn auch mit Bargeld zu tun?

Manchmal arbeite ich als Geldbote. Ich hab' schon mal neun Millionen, als Scheck allerdings, transportiert. Als Bargeld einmal 800.000.

Dabei habe ich Schulmaterial für meine Schwestern zu kaufen, Schuluniformen etc. Das alles lastet auf mir. Und ich schlepp' da 800.000 mit mir rum. Was denkst du, kommt mir da in den Kopf? Warum lass' ich mich nicht einfach von einem Freund an der Ecke überfallen. Ich werde ihm einen Anteil geben und den Rest behalten. Das ist mir durch den Kopf gegangen. Das war mein erster Gedanke mit diesen 800.000 in der Hand. Ich krieg' einen Schlag ins Gesicht, bums, reiß' mir die Klamotten vom Leib, und einer tritt mir noch mal ins Gesicht. Eine blutige Nase würde mir nichts ausmachen. Ich komme total verletzt in die Firma zurück und sage, ich sei überfallen worden. Ich würde meinen Job behalten und hätte dazu noch das Geld. Aber ich hab's nicht gemacht.

Wieviel Leute seid ihr?

Neun. Mit einem Einkommen von 20.000 von mir und 45.000 von meiner Tante.

Hast du dir schon mal überlegt, wie ihr Armen die Situation ändern könntet, durch eine Revolte zum Beispiel?

Ach, Veränderungen sind überhaupt nicht drin. Die Unterschicht ist sehr stark angewachsen. Auf fünf Reiche kommen 50.000 Arme. Da können weder Wahlen noch Politiker irgend etwas bewirken. Ich für meinen Teil würde am liebsten all das vernichten. 90 Prozent des Geldes werden von fünf Prozent der Bevölkerung kontrolliert. Und die übrigbleibenden zehn Prozent teilen sich dann die restlichen 95 Prozent der Bevölkerung.

Ein Armer, der reich sein will, muß Überfälle machen oder mit Drogen handeln. Es nützt überhaupt nichts, etwas zu lernen, zu studieren. Ich lerne, gehe zur Schule, und das einzige, was ich mir erhalte, ist meine Hoffnung. Aber dafür habe ich eigentlich nicht gelernt. Es ist doch so, ich mache eine Ausbildung, und dann gibt mir die Gesellschaft nicht die geringste Chance zu zeigen, was ich gelernt habe. Ich habe für nichts gelernt.

Hast du eigentlich einen speziellen Berufswunsch?

Ich würde sehr gerne mit Malerei bzw. Design arbeiten.

Hast du Chancen, das zu machen?

Ich mache das schon. Ich bin Autodidakt. Ich habe nie Malerei studiert und male trotzdem schon. Ich werd' jetzt erst mal meinen Hauptschulabschluß machen und dann das Abitur.

Aber genau dann gehen Probleme los. Ich werde mir mein Studium selbst bezahlen müssen. Aber meine Geschwister darf ich dabei nicht vergessen. Kannst du mir sagen, wie ich das machen soll? Es geht eben nicht. Nicht mal für die Schulmaterialien meiner Schwestern habe ich das Geld, geschweige denn für deren Schuluniformen.

Was wird denn passieren, wenn ihr die Schuluniformen nicht kaufen könnt?

Die Schule wird die Kinder rauswerfen, obwohl sie die Lage unserer Familie ganz genau kennt. Wenn du diese Sachen nicht kaufen kannst, weisen sie die Kinder eben von der Schule.

Aber es gibt doch Wahlen. Gibst du deine Stimme irgend jemandem, wählst du?

Meine Stimme bekommt keiner. Mein Kreuzchen mach' ich auf das blanke Papier. Allerdings habe ich eine gewisse Sympathie für Brizola. Aber das ist auch nur so ein Schlitzohr.

Wo läßt du deine Wut raus?

Dazu gehe ich in den Circo Voador und mach' da halt Randale. Ich geh' mich prügeln während irgendeiner Show.

Kannst du dir nicht eine andere Lösung vorstellen, vielleicht sich mit anderen zusammentun?

Nee, so ist das besser. Was anderes ist da nicht drin. Die Realität ist eben eine große Scheiße. Unsere tolle Baracke hier zum Beispiel [Lachen]. Wenn's regnet, wird hier drinnen alles naß. Wir haben nicht mal Geld, das zu reparieren.

Die Leute von der Präfektur waren schon mal hier, um uns klarzumachen, daß wir hier zu verschwinden hätten. Das hier sei regierungseigenes Land. Wir könnten hier kein Haus hinstellen. Also gebt uns halt ein Haus. Sie werden uns eins geben, aber dort am Arsch der Welt. Dort in Japeri, Santa Cruz, Campo Grande. Da wollen sie dir eine Wohnung geben, du arbeitest hier im Zentrum der Stadt. Um dann hierherzukommen, mußt du um drei oder vier Uhr früh aufstehen und läufst jedesmal Gefahr, auf deinem Weg von den Todesschwadronen umgelegt zu werden.

Wer ist das?

Das sind selbsternannte Richter der Großstadt. Die glauben, jeder Dieb habe zu sterben. Also gehen sie hin und ermorden sie. Die sind angestellt von Supermarktbesitzern, die sie bezahlen, um angebliche Gesetzlose, die ihren Geschäften schaden könnten, umzunieten. Wenn sie dich beim Grasrauchen sehen, stirbst du auch. Du stirbst einfach. Wer Drogen nimmt oder einen Joint raucht, ist ein Verbrecher und gehört liquidiert.

Woher wissen die denn, daß du rauchst?

Ach, du hast meinetwegen die Färbung an den Zähnen, oder sie treffen jemanden, der es erzählt. Vielleicht gehst du mit einem Freund los und der raucht. Du rauchst auch einen. Erzählst es vielleicht jemand anderem, so lange, bis es irgendeiner hört, der Kontakt zu diesen Typen hat. Und schon sind sie hinter dir her. Es hängt auch davon ab, mit wem du zusammen bist. Manchmal weißt du ja gar nicht, daß der ein Dieb ist, mit dem du gerade zusammen bist. Wirst du mit dem dann entdeckt, stirbst auch du.

In der Vorstadt ist das Herumlungern auf der Straße ein Abenteuer. Die Vorstadt ist nur was für die, die da auch aufgewachsen sind.

Zwei deiner Brüder haben sich für das Leben auf dem Morro,2 für das Leben als Drogenhändler entschieden. Warum bist nicht auch du diesen Weg gegangen?

Das ist eine Sache des Verstandes. Ich bin jemand, der über seinen Horizont hinausblicken kann. Die können das nicht. Die haben das gleiche Leben hinter sich wie ich. Aber für die ist klar, für den Mindestlohn, das salario minimo, arbeiten die nicht. Die wollen Geld. Und mit Drogenhandel fließt das Geld nur so. In nicht ganz einer Woche, ach was, in nicht ganz einem Tag kannst du 100.000, ja 200.000 rausholen. Eine Woche bringt Millionen. Das ist einfaches und schnelles Geld, und die Jungens haben sich daran gewöhnt. Mein Bruder wird seine 200.000 am Tag nicht eintauschen gegen meine 20.000 im Monat. Niemand wird das wollen. Jeder möchte doch schöne Klamotten.

Warum also bist du nicht den Weg deiner Brüder gegangen, du bist ja immer noch hier.

Drogen sind gefährlich. Ich würde eher rauben und überfallen, als mit Drogen zu handeln. Ein Drogenhändler hat kein ruhiges Leben. Schon sein engster Vertrauter, seine rechte Hand, will ihm ans Leder.

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Es gibt immer jemanden, der einem was neidet, an die eigene Stelle will. Und wenn du nicht aufpaßt, bist du dran. Nein, für mich ist das nichts. Und ich bin noch frei, bin nicht an den Morro gefesselt, kann hingehen, wohin ich will.

Welchen konkreten Gefahren sind deine Brüder denn ausgesetzt?

Sie leben mit der permanenten Bedrohung, daß die Polizei dort erscheint. Die Polizei ist ihr Feind. Zudem herrscht am oberen Teil des Morros eine Fraktion, die nennt sich das „dritte Kommando“. Das sind die Gegner der Fraktion meiner Brüder, die im unteren Teil des Morros herrscht. Das ist eine Stadtguerilla. Und die Bewohner helfen den Drogenhändlern, weil die ihrerseits die Gemeinschaft der Favela-Bewohner unterstützen. Die Gemeinde Jacarente zum Beispiel bevorzugt die Hilfe der Banditen. Vom Staat kommen weder Geld noch die geringsten Anstrengungen hinsichtlich einer Stadtsanierung. Die Straßen dort sind Kloaken. Also muß sich die jeweilige Gemeinde zusammenschließen, um zu bezahlen. Wenn also der Staat nichts gibt, der Gesetzlose aber gibt, dann unterstützen sie halt den Gesetzlosen. Die Hauptgefahr auf dem Morro geht von der Polizei aus. Wenn die Polizei auf den Morro kommt, dann schießend. Neulich ist durch diese Schießerei der Polizei ein drei Monate altes Baby umgekommen.

Geht die Polizei gegen alle Banden gleichermaßen vor, oder arbeiten die mit jemandem zusammen?

Oh Mann, ich habe schon viel zu viel erzählt. Das wird mir jetzt zu gefährlich...

Aber die Polizei hat ja deinen Bruder schon erwischt. Was haben sie mit ihm gemacht?

Ich kann dir nur sagen, was er mir erzählt hat: Die Polizei kam vom Fuß des Morros und von oben mit Hubschraubern. Und er hat versucht, zu Fuß zu entkommen. Aber sie schnappten ihn. Und dann markierten sie ihn mit einem Brandzeichen. Sie brannten ihm ein M, den ersten Buchstaben seines Vornamens, in seinen Oberarm. Er hat mir das gezeigt und gesagt, wenn die Polizei ihn das nächste Mal schnappe, wüßte sie gleich, wen sie vor sich habe, auch wenn er mit falschen Papieren unterwegs sei und alles sehr schnell ginge.

Wenn sie ihn noch mal schnappen, was wird dann passieren?

Ach, die Polizei ist doch korrupt. Sie nehmen Geld, oder sie schmeißen dich auf die Straße, d.h. bringen dich um. Aber normalerweise verlangen sie Geld. Hundert-, zweihundert- oder fünfhunderttausend, je nachdem, wen sie da geschnappt haben. Das hängt von der Hierarchie ab. Wenn sie einen Bioß schnappen, werden sie Millionen wollen. Für ein kleines Licht wollen sie so fünfzig- oder hunderttausend.

An welcher Stelle der Hierarchie steht denn dein Bruder?

Er hat mir erzählt, daß er die rechte Hand eines der dortigen Chefs ist. Also sein Bodyguard.

Das heißt, er hat auch Maschinenpistolen.

Da oben haben sie das.

Du hast ziemlich wilde Tätowierungen auf deinen Oberarmen, hat das was zu bedeuten?

Ich steh' auf Trash Metal. Trash Metal ist aggressiv. Das ist Musik, die sich gut eignet, um Randale zu machen. Das ist Musik, die dich nicht betrügt. Die erzählt dir die Realität, so wie sie ist.

Aber Rio ist doch bekannt als die Stadt des Samba?

Samba ist eine Geldmaschine. Populär war das früher mal. Da feierte noch das Volk den Karneval. Heute hat es nichts mehr damit zu tun. Heute ist das eine Sache der Oberschicht. Sie verlangen hohe Eintrittspreise für die Show im Sambodromo. Das Volk bleibt draußen, die Reichen sind dabei. Die verkaufen die Show. Heutzutage muß du zahlen, um am Defilee teilnehmen zu können. Die Sambaschule kassiert dabei und wird reich, du selbst bleibst arm.

Und Trash Metal ist keine Geldmaschine?

Kann sein, aber dann eine der Armen, nicht eine der Reichen. Ich hab' noch nie von einem Trash-Metal- Sänger gehört, der die dicke Kohle macht. Trash Metal bringt kein Geld. Das ist von der Gesellschaft nicht anerkannt. Das ist was für Diebe, vor allen Dingen in Brasilien. Es gibt sehr viele solcher Bands. Aber die spielen nur in Garagen und für Publikum, das das wirklich hören will. So ist das. Das ist der Unterschied. Das ist nicht zu vergleichen mit klassischer Musik oder Pop. Die Kritiker mögen das nicht. Die Radios spielen es nicht. Weil es kritisiert. Die Regierung verhindert, daß Trash im Radio gespielt wird.

Wovon handeln denn die Texte?

Sie sprechen über die Gesellschaft, über die Verantwortlichen, speziell über die Polizei und deren Methoden, das Volk zu unterdrücken.

Zum Beispiel?

Hm, der Typ sagt: „Wie Christus am Folterwerkzeug schwieg er drei Tage. Maria lächelte dazu glücklich mit ihrem zahnlosen Mund. Wie die Arche Noah, umflutet in der Sintflut, hab' ich die zwölf Apostel in einem Vorstadtzug sich prügeln sehen.“ Ein anderer Text geht so: „Ich kann Pater nicht leiden, mag keine Nonnen und keine Zügel. Ich mag den Bischof nicht und auch nicht Christus, ich sage nicht amen.“ Klar, daß auch die Kirche versucht, das zu verhindern.

Was, mal abgesehen von Trash, gibt dir die Kraft, so zu leben?

Ich mag das Leben. Und das Verbrechen läßt dich nicht leben. Es sterben zu viele.

1) „Morro“ heißt eigentlich „Hügel“ und ist ein Slang-Ausdruck für die Elendsviertel oder „Favelas“, die in Rio meist auf Bergen liegen.