Die Hoffnung heißt Türkei

Der türkische Premierminister Demirel preist auf Goodwill-Touren nach Aserbaidschan und in die zentralasiatischen Turkrepubliken die „Welt des Türkentums“/ Mit seinem Nationalismus rennt er offene Türen ein/ Das Konzept des osmanischen Imperiums als Antwort auf das Ende des Kalten Krieges?  ■ Von Ömer Erzeren

Manchen Menschen unter den Tausenden am Flughafen von Nachitschevan standen aus Freude die Tränen in den Augen, als der türkische Premierminister dem Flugzeug entstieg. Auf den Transparenten, die Süleyman Demirel bejubelten, brachten zwei die Stimmung auf den Punkt: „Du bist nicht nur der Vater der Türkei, du bist der Vater aller Türken!“ Und: „Keine Kraft kann die anatolischen Türken von den aserbaidschanischen Türken trennen!“. In der zwischen Armenien und dem Iran gelegenen aserbaidschanischen Exklave Nachitschevan verkörpert die Türkei die Hoffnung. Feindselige Stimmung herrscht hier gegenüber Armenien und dem Iran. Als wenige Tage vor dem Demirel-Besuch zwei mit Khomeini-Postern bestückte Lastwagen aus dem Iran Hilfsgüter brachten, wurden die Fahrer ausgepfiffen.

„Demirel, du bist der Vater aller Türken!“

Demirel war nach Nachitschevan gereist, um die neue Grenzbrücke über dem Aras-Fluß, die Nachitschevan mit der Türkei verbindet, zu eröffnen. Doch von Grenze war ohnehin nichts zu spüren. Ohne Paß überquerten Tausende den Aras-Fluß, einst eine unpassierbare Grenze zwischen Warschauer Pakt und Nato. Die russischen Truppen am Grenzabschnitt, die noch vor wenigen Wochen zumindest symbolisch die Existenz einer Grenze demonstrierten, waren abgezogen. Am liebsten hätten sich die rund 300.000 türkischsprechenden Einwohner Nachitschevans gleich der Türkei angeschlossen.

Wie sich die Zeiten ändern: Der Parlamentspräsident Nachitschevans, Haydar Aliyev, einst Politbüromitglied der KPdSU, der beinahe sogar Generalsekretär der Partei geworden wäre, schmeichelte in seiner Rede dem Gast aus Ankara, der vormals als Repräsentant des bösen, türkischen Kapitalismus galt.

Die Stippvisite Demirels, seiner acht Minister und der 52köpfigen Parlamentsdelegation in Nachitschevan war eine politische Machtdemonstration gegen Armenien. Demirel drohte: „Wer mit Gewalt versucht, die bestehenden Grenzen zu ändern, der wird auf eine noch stärkere Gegenmacht stoßen. Sie werden es bereuen. Wer glaubt, mit Gewalt Grenzen zu verändern, wird bald das Nachsehen haben.“ Von Ferne konnte der türkische Premier sogar die Anhöhen der aserbaidschanischen Stadt Sederek, die nur zwei Wochen zuvor von armenischen Verbänden angegriffen worden war, sehen. Damals hatte der Präsident Nachitschevans, Aliyev, die Türkei aufgefordert, militärisch zu intervenieren.

Gemäß dem internationalen Abkommen von Kars 1921 hat die Türkei ein Mitspracherecht, wenn der politische Status Nachitschevans verändert werden sollte. Doch ein militärisches Abenteuer, das unmittelbar eine armenisch-türkische Konfrontation zur Folge hätte, war den Strategen im Ankaraer Außenministerium unheimlich.

Machtdemonstration gegen Armenien

Man beließ es bei diplomatischen Stellungnahmen zur „armenischen Aggression“ gegen Nachitschevan und schickte Ambulanzen, um Verletzte in türkische Krankenhäuser zu transportieren. Es scheint, daß die Türken auch Haydar Aliyev, der allzu flink öffentlich türkisches Militär anforderte, zur Räson brachten. Heute fordert Aliyev zwar „politischen Beistand“ von der Türkei, aber weder Waffen noch Militär.

Doch die armenischen Attacken auf Nachitschevan und die Einverleibung der aserbaidschanischen Stadt Latschin durch armenische Verbände, um einen Korridor nach Nagorny-Karabach zu eröffnen, haben in der Türkei nationalistische Panikmache angeheizt. Die Regierung Demirel wird wegen ihrer Zurückhaltung der Schwäche bezichtigt und gerät zunehmend unter innenpolitischen Druck. Während einer Sitzung des türkischen Parlaments beschuldigte Oppositionsführer Mesut Yilmaz von der „Mutterlandspartei“ die Regierung der „Gedankenlosigkeit und der Kapitulation“. Der Chef der fundamentalistischen „Wohlfahrtspartei“, Necmettin Erbakan, bezeichnete Demirel als Angsthasen: „Unweit unserer Grenze massakrieren die Armenier Moslems. Die Türkei muß dorthin Waffen und Soldaten schicken.“ Bülent Ecevit, in den 70er Jahren mehrfach Premier des Landes, zog Parallelen zu Zypern. Wie damals müsse die Türkei als Garantiemacht für Nachitschevan intervenieren. „Finden Sie die Politik der Regierung Demirel gegenüber Armenien zu weich?“ wollte jüngst die 'Turkish Daily News‘ wissen. Fast 70 Prozent der Befragten bejahten diesen Satz bei der Meinungsumfrage.

Demirel begegnet gelassen der innenpolitischen Kritik. „Heutzutage löst man Probleme nicht mit Waffen in den Händen,“ rief er den Kritikern zu. Obwohl die Türkei bei ihrer militärischen Intervention 1974 auf Zypern im Recht gewesen sei, habe dies zur politischen Isolation der Türkei geführt. Statt Militär mobilisierte Demirel die zur Verfügung stehenden internationalen Gremien, um den „Brüdern und Schwestern“ Aserbaidschans zur Hilfe zu eilen. Nach der Einnahme der aserbaidschanischen Stadt Latschin wurde in Entschließungen der KSZE und der Nato Armenien direkt oder mittelbar verurteilt. Die Einnahme Latschins war schließlich ein Völkerrechtsbruch, obwohl in der KSZE- Akte sowohl Armenien als auch Aserbaidschan den Grundsatz von der Unverletzlichkeit der Grenzen akzeptiert haben. Nach einem Treffen mit dem russischen Präsidenten Jelzin letzte Woche in Moskau erreichte Demirel ebenfalls, daß in der gemeinsamen Abschlußerklärung die Besetzung Latschins gerügt wird. Doch Demirel klagt, daß Organisationen wie die KSZE über keine Machtmittel verfügten, um gegen Vertragsbrüche vorzugehen: „Auf der einen Seite gibt es die KSZE; man redet von der Unverletzlichkeit der Grenzen. Auf der anderen Seite wird Latschin eingenommen. Es muß ein Mechanismus geschaffen werden, um internationale Beschlüsse durchzusetzen.“

Der Krisenherd Nagorny-Karabach und die bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Armenien und Aserbaidschan sind der türkischen Politik ein Dorn im Auge — gerade jetzt, wo die Türkei nach dem Zerfall der Sowjetunion die Chance wittert, in der großen Weltpolitik mitzumischen. Demirel glaubt, Aserbaidschan und die Turkrepubliken in Zentralasien politisch durchdringen zu können. Die mehrtägige Reise des türkischen Premiers vor einem Monat durch den Kaukasus und Zentralasien wurde bereits als satter politischer Erfolg gefeiert.

Nationalistische Panikmache in der Türkei

Im Universitätshörsaal in der turkmenischen Hauptstadt Aschkabat war kein freier Platz mehr zu ergattern, als Süleyman Demirel vor den politischen Honoratioren des an Energieschätzen reichen Wüstenstaates eine Rede hielt. „Ihr seid nicht nur ein Volk von vier Millionen. Es gibt eine gewaltige Welt des Türkentums von der Adria bis zur chinesischen Mauer. Nach hundertjähriger Sehnsucht haben wir uns wieder umarmen können. Dies ist unser Recht!“ Der turkmenische Staatspräsident Niyazov stürmte flugs zum Rednerpult um die türkische Flagge zu küssen.

In Usbekistan, Kirgisien, Kasachstan, Turkmenistan und Aserbaidschan wurde der türkische Premier mehr oder weniger gefeiert. Der usbekische Präsident Islam Kerimov, begeistert vom Besuch der „Blutsbrüder“, schwärmte vor seinem Gast: „Die Türkei hat uns als erster Staat anerkannt. Wir haben uns für das Entwicklungsmodell der Türkei entschieden. Wir sind sehr glücklich, daß der türkische Ministerpräsident zu unserer Unterstützung hierher gekommen ist.“ Kirgisiens Staatspräsident Askar Akajev, der bereits zuvor die Türkei mit einem „Leuchtstern am Himmel“ verglichen hatte, rühmte die Verdienste türkischer Unternehmen.

Insgesamt 41 Verträge unterzeichnete Demirel in den Turk-Republiken: Wirtschafts- und Kulturabkommen sowie Verträge im Bereich Massenkommunikation und Transporte. Die türkische „Eximbank“ stellt den zu neuer Souveränität gelangten Turkrepubliken Millionenkredite für Importe aus der Türkei zur Verfügung. „Kapitalismus“ ist das Allheilmittel für die politischen Führungen in den Turkrepubliken; die Türkei, ein Land mit moslemischer Bevölkerung, aber laizistisch regiert, genießt den zweifelhaften Ruf, es erfolgreich zu kapitalistischem Reichtum gebracht zu haben. Zwar kann die Türkei als unbedeutender Wirtschaftsfaktor in der westlichen Welt die ungeheuren Erwartungen der „Brüder und Schwestern“ in der neuen Welt nicht erfüllen. Doch die politisch-kulturelle Nähe der Türkei zu den Turkrepubliken ist von Vorteil für türkische Unternehmen oder Multis, die von der Türkei aus die neuen Märkte zu erobern trachten. Beispielhaft ist der Erfolg des türkischen Gesundheitsministers Yildirim Aktuna. Laut Verträgen, die mit Aserbaidschan, Turkmenistan und Kirgisien abgeschlossen wurden, können Medikamente, die vom türkischen Gesundheitsministerium zum Verkauf zugelassen sind, in den betreffenden Ländern ohne Genehmigungsverfahren frei vertrieben werden. Die Pharmakonzerne in der Türkei jubelten über die Verträge.

Kapitalismus als Allheilmittel

Demirel geriet in Alma Ata ins Schwärmen, als feierlich das politische Zusammengehen der Turkvölker nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion gefeiert wurde. „Es gibt eine große Welt des Türkentums. Doch im Laufe der vergangenen 150 Jahre wurde sie zerstückelt. Aber heute umarmen wir uns mit Sehnsucht. Die Richtigkeit unserer Aussage, daß die Türkei und die türkische Flagge allen gehört, stellt sich heute heraus.“

Demirel hatte sogar einen eigens für die neuen Republiken ausgearbeitetes Geschenk in seinem Reisegepäck: „Ich habe Ihnen einen Verfassungsentwurf mitgebracht, weil diese Republiken keine Verfassung haben. Sie wissen nicht, was ein Verfassungsgericht oder ein Verwaltungsgericht ist.“ Der Verfassungsentwurf, den er den Staatspräsidenten vorgelegt habe, sei sehr „praktisch“, sagte Demirel. Ganz „praktisch“ ist auch der von den Türken unterbreitete und von den Usbeken dankbar angenommene Vorschlag, Usbeken an türkischen Militärakademien auszubilden. Die Türkei weiß, was die neuen Republiken begehren: Verfassungen und Armeen. Auch den Zugang zu den Stätten der Ideologieproduktion hat man Kirgisen, Usbeken, Kasachen, Turkmenen und Aserbaidschanern erleichtert. Bereits im nächsten Semester werden 10.000 Studenten aus diesen Republiken an türkischen Universitäten studieren. Und pünktlich zur Ankunft des türkischen Premiers in Usbekistan ging das vielleicht machtvollste Instrument der Türkei in Betrieb, das den Einfluß in der türkischsprachigen Hemisphäre steigern soll: „Eurasia“. Das Satellitenprogramm kann in allen zentralasiatischen Republiken und auf dem Kaukasus empfangen werden. Es erhält sein politisches Gewicht dadurch, daß mit den zentralasiatischen Republiken Verträge abgeschlossen wurden, wonach jeweils ein nationaler Kanal in den Republiken für die Sendungen von „Eurasia“ reserviert wird. Die Umstellung des kyrillischen Alphabetes auf das lateinische wird von Ankara als weiterer bedeutender Schritt angesehen, um die neuen Republiken an die Türkei zu binden. In Aserbaidschan ist die Lateinisierung bereits beschlossene Sache; sie wird bereits zügig vorangetrieben.

Verfassungsentwurf im Reisegepäck

Der Fall der Berliner Mauer und das Ende der bipolaren Welt hat nicht nur Jugoslawien in den Bürgerkrieg geführt. Blutig werden allerorten die neuen Grenzen gezogen. Die Türkei liegt am Schnittpunkt von Krisenherden — der Balkan, der Kaukasus und der Irak. In einer Zeit, in der politische Kräftekonstellationen aus dem Ersten Weltkrieg wieder an Aktualität zu gewinnen scheinen, wird die türkische Außenpolitik in ihren Grundpositionen erschüttert. Die Ideologen in der Türkei diskutieren bereits heute, ob nicht das Konzept des türkischen Nationalstaates in Frage gestellt werden muß, denn: Ist nicht vielmehr das Konzept des Osmanischen Imperiums die politische Antwort auf das Ende des Kalten Krieges?

Mustafa Kemal Atatürk gründete nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches den türkischen Nationalstaat. Allein die Kurden waren als Minderheit in den neuen Staatsgrenzen verblieben. Erfolglos und mit Gewalt versuchte man sie zu assimilieren. Der Kemalismus, länger als ein halbes Jahrzehnt unerschüttliche Staatsideologie, beinhaltete gleichzeitig jede Absage an Expansionismus und militärische Interventionen im Ausland. Freiwillig isolierte sich der neue Staat politisch- kulturell von den Moslems, die einst unter osmanischer Herrschaft lebten. Heute wird an den einstigen kemalistischen Tabus gerüttelt.

Neuauflage des Osmanischen Imperiums?

Einer der Vordenker ist der türkische Staatspräsident Turgut Özal, der erbittert noch vor dem Golfkrieg gegen türkischen Neutralismus stritt und sicherte, daß die Türkei ihre Militärbasen den US-Bombern zur Verfügung stellte. Zu gerne würde Özal moslemischen Hilferufen aus Sarajewo folgen und Truppen nach Bosnien entsenden. Özal, ein Gegner des türkischen Premiers Demirel, befürwortete auch eine militärische Intervention in Nachitschevan. Er schockierte die türkische Politszene mit seinem Vorschlag, kurdische Fernsehprogramme zu starten. Sein Intimus, der Kolumnist Cengiz Candar, der stets den „Defätismus“ türkischer Außenpolitik im Balkan und im Kaukasus beklagt, forderte jüngst ein vereinigtes, autonomes Kurdistan unter Protektion der Türkei. Die von den „Engländern künstlich gezogene“ türkisch-irakische Grenze trenne „das kurdische Volk des Osmanischen Staates“. Die Anhänger der neuen türkischen Grenzen fühlen instinktiv, daß die ungelöste kurdische Frage in der Türkei im Rahmen des Nationalstaates nicht lösbar ist. Sie ist außerdem ein Klotz am Bein für politische Expansion in Richtung Balkan und in Richtung Asien.

Der Expansion des türkischen Nationalstaates sind enge Grenzen gesetzt. Die Kurden sind eben ein indogermanisches Volk mit engen historischen Bindungen an die Türken. Die die Türkei zur Hilfe rufenden Bosniaken sind Moslems, doch nicht Türken, und das Turkvolk der Kasachen spricht ein Türkisch, das ein Istanbuler Bürger nicht verstehen kann. Dennoch sind einer Expansion des Osmanischen Imperiums keine Grenzen gesetzt. Dem 68jährigen Altpolitiker Demirel — wie alle älteren Politiker der von der kemalistischen Ideologie geprägten Generation — sind solche abenteuerlichen Gedankengänge fern.