Der Lastwagen als Vorbild

Die Mercedes-Limousinen der S-Klasse wiegen zwar soviel wie ein Kleinlaster, sind deshalb aber noch lange keine Nutzfahrzeuge/ Glanz-Bilanz mit Kratzern: Mercedes AG vor dem Arbeitsplatzabbau  ■ Von Erwin Single

Werner Niefer sieht, wo immer er hinschaut, neue Chancen und neue Märkte. Kaum ein Automobilwerk der Welt dürfte der fachkundigen Inspektion des schwergewichtigen „Mister Mercedes“ entgangen sein. Seit einiger Zeit reist der Vorstandsvorsitzende der Mercedes-Benz AG am liebsten in den Osten. Dort nämlich haben die Stuttgarter Autobauer neuerdings wachstumsträchtige Märkte gesichtet, die es nun aufzurollen gilt. Bei der tschechischen Lastwagenfabrik Liaz rollen bald schwere Mercedes-Laster vom Band, bei Avia sollen Transporter folgen. In der Nähe von Moskau werden bei der russischen Avtrokon Mercedes-Busse montiert. Und in Ungarn verhandeln die Mercedes- Vorständler derzeit über einen Einstieg beim Omnibushersteller „Ikarus“, der früher jährlich 18.000 Busse in die RGW-Staaten und die Sowjetunion verkaufte. Nur einen Haken hat das Osteuropa-Engagement noch: Die dortigen Märkte sind derzeit nicht mit der notwendigen Kaufkraft ausgestattet.

Der über viele Jahre defizitäre Nutzfahrzeugbau des weltweit größten Lkw-Herstellers läuft wieder auf Hochtouren. Die Bilanz der Sparte kann sich sehen lassen: Die Erlöse nahmen im vergangenen Jahr mit 27,6 Milliarden Mark um 14 Prozent zu; der Nutzfahrzeugbau macht inzwischen 41 Prozent des gesamten Mercedes-Umsatzes aus. Mit 295.800 produzierten Lastern, Transportern, Bussen und Unimogs erzielte „der gute Stern auf allen Straßen“ 1991 ein Rekordergebnis. Vor allem in Lateinamerika, Mexiko und Spanien wurden zweistellige Zuwachsraten verbucht. Was Lkw- Lenker Helmut Werner bei den Lastern als Sparkommissar und Marktstratege inzenierte, darf er im kommenden Jahr als neuer Mercedes- Chef bei den Personenwagen fortsetzen. Denn die Pkw-Sparte schnitt bei weitem nicht so blendend ab: Weltweit wurden letztes Jahr 560.100 Autos (Vorjahr: 565.800) verkauft. Im Ausland sackte der Absatz der Luxusschlitten sogar um 8,6 Prozent ab, davon in den USA um 25 und in Japan um 12 Prozent.

Doch Honorarprofessor Niefer konnte trotz Kratzern im Limousinen-Lack bei der gestrigen Vorstellung der Mercedes-Bilanz noch einmal stolz seine Hände falten: Mercedes sei auf dem richtigen Weg, erklärte der 1993 scheidende Mercedes-Chef. Deutschlands renommiertester Autokonzern hat 1991 seinen Umsatz um 12 Prozent auf 67,1 Milliarden Mark gesteigert. Und wie im Jahr zuvor strichen die Autobauer einen Gewinn von 1,55 Milliarden Mark ein.

Fünfzehn Jahre steuerte Niefer die Nobelmarke auf Erfolgskurs. In die nächsten Jahren gehen die Stuttgarter Autobauer jedoch mit einer schweren Hypothek, die nicht zuletzt auf die Kappe des altershalber verabschiedeten „Mr. Mercedes“ gehen. Die Branche wird, wie die Auftragszahlen zeigen, von den Boom-Zeiten der letzten Jahre Abschied nehmen müssen. Mercedes trifft dies besonders hart, denn die Produktionskosten liegen um rund ein Drittel höher als die der japanischen Konkurrenten. Auch wenn die Manager nur gequält Auskunft geben, Mercedes wird wohl rund 20.000 Arbeitsplätze abbauen.

Den größten Flop aber haben sich die Mercedes-Bastler offensichtlich mit der sagenumwobenen S-Klasse eingehandelt. Zuerst waren die Luxuskreuzer zu schwer, nun fehlen ihnen — ganz entgegen den Jubelberichten aus der Konzernzentrale — anscheinend die KäuferInnen: Hartnäckigen Gerüchten zufolge sollen die Vertragshändler noch nie so schnell mit so vielen S-Klasse-Schlitten versorgt worden sein. Und obwohl offiziell Wartezeiten von einem Jahr angegeben werden, scheint die tägliche Praxis eine ganz andere zu sein: Mercedes-Verkäufer laufen potentiellen Kunden die Tür ein, berichtet der Kölner 'PS-Report‘, einem Spediteur sei ein S-Klasse-Modell nicht nur binnen vier Wochen zugesagt, sondern auch noch 130.000 Mark für seinen 18 Monate alten 560er angeboten worden. Der neue Wagen steht dann wahrscheinlich schon irgendwo in Deutschland auf Halde, so der Informationsdienst.