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: Rekonstruktion eines Verbrechens

■ Ein Buch über die Sprengung des Berliner S-Bahn-Tunnels in den letzten Kriegstagen

Berlin, Anfang Mai 1945: der Belagerungsring um die Stadt ist geschlossen, die Innenstadt ist zur Front geworden. Sowjetische Artillerie und Infanterie kämpfen gegen die Reste des Volkssturms. Wer kann, rettet sich in Keller und Bunker, versteckt sich in den Tunneln der U- und S- Bahn, die für viele Zivilisten und verwundete Soldaten zur Zuflucht werden. Am 2. Mai, ein paar Tage vor der offiziellen Kapitulation Deutschlands und nur einige Stunden, bevor die Truppen der Hauptstadt die Waffen strecken, detoniert im Nord-Süd-Tunnel der S-Bahn, unter dem Landwehrkanal in Höhe der Hochbahnüberführung, eine Sprengladung.

»Sekundenlang bebte die Erde, dann wurden im Kanal die Wassermassen und auf den nördlichen und südlichen Uferstraßen das Straßenpflaster, Erde, eiserne Rohre usw. in die Höhe geschleudert. Prasselnd und krachend fielen sie auf die ganze Umgegend nieder. Augenzeugen beobachteten, wie das Wasser des Kanals, das erst nach beiden Seiten aufstauend ablief, weiter nach der Kreuzungsstelle zurückflutete und unter Bildung großer Wirbel in die Tiefe gezogen wurde. Bald war das im Kanal befindliche Wasser verschwunden, und es zeigten sich im Kanalbett große Löcher, in die das restliche Wasser hineingurgelte.« So schildert der Reichsbahn-Bauabteilungsleiter Rudolf Kreger die Katastrophe. Das Wasser überflutet mehrere Kilometer des S- Bahn-Tunnels und dringt am Bahnhof Friedrichstraße auch in das U-Bahn-Netz ein. Wie viele Opfer die Sprengung fordert, weiß niemand — anfangs schätzt man ihre Zahl auf mehrere tausend, vermutlich aber waren es zwischen ein- und zweihundert, die zum Teil erst nach Monaten geborgen wurden — Kinder, Frauen, Männer, größtenteils Zivilisten.

Wer sprengte den Tunnel, auf wessen Befehl? Wollten die Sowjets letzte Widerstandsnester des Volkssturms ausheben? Offenbar war es die SS, die hier rücksichtslos nach ihrem Prinzip der »verbrannten Erde« verfuhr, um mehrere Verkehrswege zugleich lahmzulegen: S- und Hochbahn, Eisenbahn, Kanal und Uferstraßen.

Karen Meyer hat dieses Verbrechen so genau wie möglich recherchiert: Sie hat Zeitungen und Bücher befragt, Akten und Lagepläne verschiedener Berliner Archive ausgewertet. Vor allem aber hat sie viele Zeitzeugen aufgetrieben und interviewt. Was damals geschah, wird wieder lebendig, einschließlich der historischen Unschärfe aus Legenden, Gerüchten und Halbwahrheiten, die die Katastrophe [Massenmord, das Wort würde hier hingehören! d. Säzzer] umgibt. Zugleich erfährt man einiges über mysteriös verschwundene Akten-Faszikel, anonyme Fotos und fehlende Ausgaben von Zeitschriften. Letzte Klarheit über das, was die Menschen im Tunnel erlebten, wird es wohl nie geben, und auch die abgedruckten Dokumente inventarisieren nur noch Spuren, so auch eine Aktennotiz über die Bergung von Leichen aus der S-Bahn am Anhalter Bahnhof vom November 1945:

»Nr. 160: Knabenleiche, hohe braune Schnürschuh, Größe ca. 32-33; blaue Jacke mit Reißverschluß und gleichfarbiger kurzer Hose mit Hosenträger, dieselben mit Lederstraps, grauer Pullover, Strumpfhalter mit weißen Glasknöpfen. — Nr. 161: Unbekannter Volkssturmmann. Keine Erkennungszeichen.« Hans-Joachim Neubauer

Karen Meyer: Die Flutung des Berliner S- Bahn-Tunnels in den letzten Kriegstagen. Rekonstruktion und Legenden. Berlin 1992, 9,80 DM (herausgegeben im Auftrag der Kreuzberger BVV, erhältlich nur in der Bürgerberatungsstelle des Rathauses Kreuzberg, im Kreuzberg-Museum, im Kunstamt Kreuzberg/ Bethanien und in der Ausstellung »Geschichtsmeile Mauerstreifen« am Potsdamer Platz).