Die Feinde unserer Feinde sind auch unsere Feinde

■ Ein Porträt des Berliner Schriftstellers Harry Hass

Jahrelang schlurfte Harry Hass gegen zwei ins »Ex & Pop« in der Mansteinstraße, flitzte hinterm Tresen hin und her, schlaksig, mit vornübergebeugtem Kopf, krummem Rücken und zerwuselten grauen Haaren. Wer beim besten Barkeeper Berlins Whisky bestellte, bekam sein Glas randvoll. Das war eine Probe auf die Ernsthaftigkeit des Gastes.

Als Dichter trat der Barkeeper nur selten auf: vor ein paar Jahren mit seinen Freunden Nick und Blixa im Quartier, dann zusammen mit der genialen Fran¿oise Cactus im »Ex & Pop«. Das war's schon. Zwar schrieb fast jeder, doch Lesungen galten im allgemeinen als peinlich. Die nächtliche Existenzialistencrew der Achtziger machte lieber Musik, filmte (weil sich verwirrte Köpfe und Herzen in der Zusammenarbeit besser disziplinieren lassen) oder flüchtete sich in den Jetzt-Ausdruck der Malerei. Die, die häufiger auf der Bühne zu sehen waren, kamen eher aus der Kumpelnestkunstecke oder waren hausbackene Satiriker.

Mit dem Wegfall der Mauer veränderte sich der Stellenwert von Literatur in der Stadt. Lesungen, vor allem im Ostteil der Stadt, wurden gut besucht, und Harry Hass las plötzlich im Prenzlauer-Berg-Café »Kyril«. »Sascha Anderson kam zu mir hin und hat mir gleich mein letztes ‘Abschnappuniversum‚ (Luchterhand-Anthologie, in der Hass zwei Geschichten veröffentlicht hat; d.A.) abgeschnappt und wollte 'ne Widmung reinhaben und meinte: ‘Wir machen das mit dir und dem Buch. Das machst du nicht bei Luchterhand.‚ Ich dachte mir: ‘Der Bursche will dir den Schneid abkaufen‚, und hab' dann ‘nein‚ gesagt.«

Bevor er jedoch bei dem emsigen Verleger Erich Maas zusagte, gab's Probleme. Da stand Harry nicht mehr hinterm Tresen, und eine schwere Zeit kam. Von weitem wurde berichtet, Harry Hass habe traurig und krank am Nachmittag im Kreuzberger »Mislivska« bei seinem Tee gesessen, er sei schlecht drauf, bringe kaum zwei Worte in fünf Minuten über die Lippen; Harry wäre jetzt häufig bei »Kiepert« und würde dort betteln: »Ich war vollkommen auf Null und brauchte ein bißchen Zaster. Ich dachte mir, da verkehren Menschen, die der Kultur nahe sind, und da gehst du mal hin.«

Vor ein paar Wochen, bei der Leipziger Buchmesse, war er dann plötzlich wieder da. Sein Ostberliner Freund Peter Wawerzinek hatte ihn ins Programm geschmuggelt. Im zitronengelben Anzug, wie ein Drogenhippie aus den sechziger Jahren, kam er auf die Bühne und warf unter dem verunsicherten Kichern der Kultur mit Knallfröschen und Chinaböllern um sich, daß sich selbst die Mikrofone ordentlich erschraken. Dann las er: ein Sänger, ein Popstar, der die Schrift mit seiner Stimme erst füllt. Das war authentischer Rock 'n' Roll, ohne die blöde Pose des »Ihr Kulturwichser könnt mich alle mal«. Anfangs wollte man ihn herausschmeißen, am Ende waren auch die Ordner begeistert. Rührend schüchtern gab Harry Hass erste Autogramme und Interviews.

Im Gespräch schaut er listig aus komplizierten Vergangenheiten herüber und erzählt, wie es war: in seiner Heimatstadt Marbach (»...zwischen Bahnhof und Friedhof geboren. Ich war immer das schwarze Schaf«), im Heim (»ein paar tolle Kumpels gehabt dort«), bei Waffenhändlern in Köln, in Tanger oder im Knast: »Ich hab' da unglaublich verzweifelte Menschen kennengelernt. Rico, ein Sinti, hatte mir mal seine Selbstmordwunden gezeigt. Unglaublich. Ich hatte so etwas noch nie in meinem Leben gesehen. Der hat sich mit einem Messer den ganzen Oberkörper zersäbelt. Mehrmals. Er sagte zu mir: ‘Ich werde für diese Gesellschaft nicht arbeiten. Die haben uns genug angetan. Die sind gegen uns, die hassen uns, und dieser Haß, der steckt auch in uns.‚ Irgendwann hat er die Kurve dann doch gekriegt, daß diese Selbstmorde eben nicht mehr geschahen. Da hat er die Sinnlosigkeit des Nihilismus kapiert und das geschluckt.«

Vor neun Jahren kam Harry Hass nach Berlin, »eine arme Wurst, ein armer Künstler. Vier Jahre lang habe ich in einer Peepshow gejobbt, als Mädchen für alles. Für Sheena und Sina und Tanja und Jacqueline — sehr charmante, chaotische, feine Mädchen, die sehr gerne an ihren Haschzigaretten paffen und ihre Marlboros rauchen, Drinks und Snacks und das Leben lieben. Ich bin immer für die Schokolade kaufen gegangen, ins Pressecafé nebenan. Damals bin ich auch ins ‘Ex & Pop‚ gekommen. Und dann war ich immer dort. Ich hab' sofort erkannt: Mensch, das sind doch Gleichdenkende, das sind doch auch Burschen, die mit dieser Gesellschaft nichts zu tun haben, die auch eher Buddhisten sind und keine christlichen Motherfucker.«

Doch die guten Zeiten der Westberliner Szene sind längst vorbei. »Vor zweieinhalb Jahren gab's einen Bruch. Viele wurden seriös, und einige waren auch nicht dafür geschaffen. Einiges waren vielleicht auch eher so spätpubertäre Erscheinungen, die dann einfach zu Ende gingen. Und schau dir doch mal jetzt die Oranienstraße an, was da an Yuppies rumhängt. Das ist doch grauenvoll, grauenvoll. Damals war das anders, als die ‘endart-galerie‚ aufmachte und wir dort war'n und wirklich Freude hatten an allem. Das ist so ziemlich den Bach runter. Einige sind auch auf der Strecke geblieben. Einer hatte LSD genommen, und das LSD war nicht sauber, und irgendwas hat ihn dann so zum Ausrasten gebracht, daß er sich mit einem Messer die Halsschlagader aufschlitzte. Ein anderer war verzweifelt. Er hat nie damit rausgerückt, aber man spürte das. Hatte ständig seinen Bob Dylan gehört, auf den er unheimlich stand, und hatte sich plötzlich erschossen. Manchmal hat man eben diese Augenblicke, wo man sich um die Ecke bringen will. Aber ich hab' ja keine Lust, wiedergeboren zu werden. Als irgendein verfluchtes Gürteltier. Das kommt überhaupt nicht in die Tüte.«

Auch Harrys wilde Drogenzeit ist inzwischen zu Ende. Ein paar Wochen war er auf Entzug. »Bei Barbituraten bekommst du epileptische Anfälle, du klatschst auf Beton. Es ist grauenhaft. Jetzt trinke ich ab und zu noch was, aber ich kokse nicht, ich nehm' kein Heroin, ich nehm' keine Tabletten. Das verblödet nur, und ich kann heute sagen, die Burschen sollen die Finger davon lassen!«

Lassa, der kleine Hund, bellt beifällig. »Halt's Maul, du verfluchter kleiner Tempelhund!«

»Ich schlafe unglaublich wenig«, meint der Dichter. »So drei vier Stunden sind mir genug. Ich mach' meine Erfahrungen, rauche meine Zigaretten, versuche mich fernzuhalten vom Dämonismus. Von Drogen zum Beispiel. Oder Menschen, von denen ich weiß, das sind schlechte Geister. Ich wechsle die Straßenseite, wenn ich sie sehe. Du weißt: Wir haben Feinde, wir haben Feinde, und die Feinde unserer Feinde sind auch unsere Feinde.« Detlef Kuhlbrodt