■ SPÄTLESE
: 69 Jealousjoys

Die erste Verabredung nahm sie nicht wahr, und er ließ ihr einen kleinen, trauernden Zettel übersenden — höflich und ein wenig erstickt, aber wohlformuliert. Nicht eine Woche nach dem Rendezvous, am Tag danach ist er schon ihr „teuerster Liebster“. Keine vier Monate nachdem sie sich trafen, gingen sie gemeinsam fort — für immer, wie sich zeigen sollte. Fünf Jahre nach ihrer großen Überfahrt schrieb er ihr: „Ich gab anderen meinen Stolz und meine Freude. Dir aber gebe ich meine Sünde, meine Torheit, meine Schwachheit und Traurigkeit. Jim.“

Jim ist James. Sie nennt ihn „Schatzi“, zum Ärger seines Bruders Stanislaus, der an Joyces Genie glaubt wie ansonsten nur der selbst und pikiert richtigstellt, es handle sich bei dem 22jährigen Exzentriker (der außer Hochmut und wenigen Gedichten, einer gewissen Fertigkeit in Pump und Hoffnung nichts vorzuweisen hat) schließlich nicht um einen Büroangestellten. Für Stanislaus ist Nora unter Stand — nicht wegen ihrer Herkunft, vielleicht nicht einmal wegen des trällernden Singsangs ihrer ungeschliffenen Sprache, der wie sie aus dem provinziellen Galway stammt. Sondern wegen des Eigensinns, mit dem sie sich der Bildung verweigert und immer verweigern wird (wie der Lektüre der Werke ihres Mannes — nicht gänzlich, aber zu weiten Teilen; sie hat Ulysses nie gelesen), wegen der Ignoranz im Kontrast zu dem Superhirn, das sie schließlich heiraten und nie verlassen wird. Jim glaubt an ihre schlichte, große Seele, und er ist davon überzeugt — womit er vermutlich recht hatte —, daß ihre Liebe seine übersteigt. Dennoch ist Nora wohl nie die Unschuld vom Lande gewesen, als die er sie anfangs zu sehen wünschte — bis er Gefallen fand an ihrer Offenheit in gewissen Stunden, an ihrem direkten Temperament — und der Erinnerung an ein Wort, das sie, direkt nach ihrer Überfahrt, in dieser ersten Nacht, ausstieß, als sie über ihm war.

Von dieser Erinnerung besessen, schreibt er ihr (während ihrer ersten Trennung nach fünf Jahren, als Joyce von Triest nach Dublin fuhr, um Veröffentlichungen zu betreiben) jene Briefe, welche die Nachkommen ihrer Obszönität halber noch heute gekürzt sehen wollen. Mit der sexuellen Raserei des Mannes ist die Übertragung vielleicht notwendig verbunden: die „Angst, Nora, Du könntest so scharf werden, daß du dich jemandem hingeben würdest“.

Nora hatte vermutlich andere Sorgen: sie war fast ohne Geld und Kontakte in Triest geblieben, und dort scheint in ihr aufgestiegen zu sein, was diese fünf ersten gemeinsamen Jahre der permanenten Improvisation im Exil, der Rücksichtnahme auf das Genie ihr abverlangt hatten, welche Müdigkeit ihr verblieb. Sie droht, Joyce zu verlassen, wofür er Verständnis hat (und nicht nur zeigt), aber es gelingt ihr selbst und ihm, sie zu beschwichtigen. Von der Korrespondenz in dieser Zeit von ihr an ihn ist so gut wie nichts erhalten, so daß die Nachwelt nur ahnen kann, wie es den beiden gelang, diese ernste erste Krise (der eine weitere folgen wird) zu überwinden. Der Traum vom großen Paar wird von beiden beschworen, die schon Eltern sind (Was ihn unter anderem auch zu der Frage führt, ob sein Sohn Georgio wirklich von ihm ist: Eifersucht muß furchtbar sein.); von ihm mit allen Gegenständen, die ihre gemeinsame Welt ausmachen, und mit allen Metaphern der Liebe, die er sonst nur verfremdet oder mit ironischer Distanznahme verwenden würde und wird. (Was die Übersetzung natürlich vereinfacht und Kurt Heinrich Hansen ermöglichte, die Briefe lebendig ins Deutsche zu bringen, ohne Opfer gelehrtesten Streites zu werden.) „Ich bin nicht gerade ein Haustier“, schrieb der Dichter seinem Bruder, bei dem er sicher sein konnte, Verständnis zu finden, „— schließlich bin ich, wie ich meine, Künstler — und manchmal, wenn ich an das freie und glückliche Leben denke, das zu führen ich alles Talent habe (oder hatte), gerate ich in Verzweiflung. Gleichzeitig beabsichtige ich nicht, mit den Scheußlichkeiten des durchschnittlichen Ehemannes zu rivalisieren...“

Das tat er zuzeiten durchaus, jedenfalls in heutiger Sicht. Seine Anweisungen aus der Ferne, was sie zu tun und zu lassen, wie sie sich zu bilden und ihn wie seine Freunde zu empfangen habe, lassen an Pedanterie und unumwundener Befehlsgewohnheit nichts zu hoffen übrig — seine Versuche, sie zu kleiden und zu schmücken, sind die charmantere Kehrseite derselben kleinen Münze. Und doch liegt etwas Rührendes darin, wie er sich ihrer Häuslichkeit, der gemeinsamen schlampigen kleinen Höhle erinnert, die ihre Liebe bewohnt, wie er die Gegenstände aufzählt, ohne sie zu Metaphern zu machen. Es gab auch 1909 schon Begriffe für den Wunsch, sich peitschen zu lassen, für Verschmelzungssehnsucht und Abhängigkeit, für fast alle Facetten einer Neurose, die man gemeinhin Beziehung nennt. So wie es jenen Verzicht auf Analyse gab, der, wo er heute Platz hat, im Regelfalle Gestus ist, schon Speicherplatz für die Erinnerung, Abenteuer der Nichtreflexion im Vertrauen auf die nachfolgende Bändigung. Bei Nora und Jim scheint dieser Verzicht nicht Gestus gewesen zu sein, sondern Notwendigkeit. Man kann zu all dem auch Liebe sagen.

James Joyce: Briefe an Nora . Aus dem Englischen von Kurt Heinrich Hansen. Mit einem instruktiven Vorwort von Fritz Senn.

Suhrkamp Verlag, jetzt auch als Taschenbuch (die gebundene Ausgabe von 1971 wurde um zwei Briefe ergänzt und mit einem neuen Anmerkungsapparat versehen): 160 Seiten, DM 12