Phantasieloses Unglück

■ Werner Düggelin bringt in Zürich Veza Canettis „Der Oger“ zur Uraufführung

Zwei ältliche Schulfreunde sitzen irgendwo in Bosnien am Tisch und schachern um die Hochzeit ihrer Kinder. Menschen sind Besitz wie Tuch und Vieh, wer nicht pariert, wird enterbt. Draga erfährt von ihrer Heirat als letzte, der junge Oger behängt sie auf Befehl mit Schmuck, die Mutter der Braut wendet sich resigniert zur Seite. Aber der Abschiedsbrief eines Verehrers, der ins Wasser ging, macht bereits die Hochzeit zum Skandal. Die Ehe wird eine stumme Tortur, am Ende sitzt Draga gebrochen in der Psychiatrie.

Veza Canetti hat den Oger 1934 geschrieben, als der Austrofaschismus ihre Hoffnung auf die Publikation des Romans Die gelbe Straße zerschlug. Das Stück war ein Versuch, die Atmosphäre ihrer Ferdinandstraße in der Wiener Leopoldstadt für die Öffentlichkeit zu retten. Daß sie mit der dramatischen Form für ein solches Unterfangen Mühe hatte, beschrieb später ihr Mann Elias Canetti; daß sie den Stoff nicht in offenen Szenen präsentierte, sondern um die Figur des Iger und die Ehetragödie arrangierte, macht das Stück spannungslos und flach. Das Ehedrama wird überraschungsarm durchexzerziert wie eine soziologische These, Iger ist ein Geizhals und Ekel der einfältigsten Art. Seine Familie läßt er darben, für Renommisterei zahlt er große Spenden. Er lügt und betrügt, wo es um Geschäftsaufträge geht, er wird jovial, wenn der reiche Schwiegervater stirbt, und er schlägt seine Kinder, als das Testament ihn ausschließt. Veza Canetti zeichnet ihn als Karrikatur, eindimensional, ohne die Tragik innerer Verstrickung und ohne tiefere Bedrohlichkeit. Für ein Monster ist er zu kraftlos, als Sadist fehlt ihm die Phantasie — vom menschenfressenden Oger keine Spur. Die vielen Figuren und Situationen, die von der bosnischen Hochzeit bis zum Wohltätigkeitsfest mit Verlosung und Kinderchor das bunte Lebensgefühl der „gelben Straße“ vermitteln sollen, lassen sich so nicht binden. Daß Zwangsheirat und Eheglück selten zusammenpassen, ist außerdem eine Binsenweisheit; heute werden wir unglücklich aus eigenem Entschluß.

Werner Düggelin hat für die um fünfzig Jahre zu spät kommende Uraufführung die größten Schnitzer dieser Etüde abgeschliffen und sich im übrigen mit mutigen Einfällen gegen die Vorlage zurückgehalten. Draga ist in den Räumen Peter Lahers nur Opfer; aus dem vermeintlichen Tod des Verehrers gewinnt sie Kraft, ihrem Mann Paroli zu bieten. Iger hat Angst vor ihren Blicken, er steht immer wieder isoliert zwischen den Menschen, und die jüngere Schwester Milka schmilzt schon auf der Hochzeitsreise mit ihrem Angebeteten einem jungen Arzt fast in die Arme. Überhaupt, so recht glücklich wird an dem Abend niemand, über dem Gewusel aus säuerlichen Tanten und abgewiesenen Verehrern lasten Leere und Sprödigkeit. Der optimistische Schluß des Textes, der die Scheidung als Rettung feiert, wird kräftig relativiert. Dennoch bleibt die Inszenierung zu nahe an der Vorlage, die Vereisung zwischen den Figuren wirkt papieren, ihr Ausdruck konventionell. Katrin Thurm ist bisweilen wie nicht präsent, die innere Not ihrer Draga nicht zu spüren. Felix von Manteuffel hätte man für Iger eine Lektion intelligenter Boshaftigkeit gewünscht. Die, nach Max Frischs Graf Öderland am Theater Basel, zweite Hommage Werner Düggelins in dieser Spielzeit hatte ihre Premiere vor viel Prominenz, und der freudige Applaus für die letzte Inszenierung während der Intendanz Achim Benning darf als Fingerzeig verstanden werden, daß das Konzept aus bekannten Namen, neuen Stücken und wenig Aufregung für Zürich schon paßt, wenn es nur billig zu haben ist. Der Neue, Gerd Leo Kuck, hat es mit der Mixtur aus Bosse und Benning, die er in seinem ersten Spielplan vorgestellt hat, bereits beherzigt. Gerhard Mack

Veza Canetti: Der Oger , Regie: Werner Düggelin, Bühne: Peter Laher, mit Katrin Thurm, Felix von Manteuffel, Sara Capretti, Jürgen Cziesla, Schauspielhaus Zürich. Nächste Aufführungen: 9., 10., 12., 14., 16., 21. bis 24.Juni