Klein-Ödipus läßt grüßen

■ Die Freie Volksbühne zeigt »Schrei über den Fluß« von Poliakoff im Ballhaus Rixdorf

Zum letzten Mal Premierenstimmung an der Freien Volksbühne, die sich, durch das Theatertreffen bedingt, nicht im eigenen Haus einstellte, sondern im Ballhaus Rixdorf: Mit Stephen Poliakoffs Schrei über den Fluß ist ein Psychodrama im Kammerspielformat entstanden, das von Werner Heinrichmöller, letztes Fossil der Ära Neuenfels, in Szene gesetzt wurde. Warum die Intendanz ausgerechnet mit diesem Stück die Spielzeit der Freien Volksbühne final ausklingen läßt, bleibt indessen unklar.

Dreizehn Jahre nach der Uraufführung in London müßte man annehmen, daß die Welt inzwischen über Penis- und Uterusneid erhaben und von Kastrationsängsten längst geheilt ist. Daß Mütter immer noch ihre Söhne den Töchtern vorziehen, ist ein Phänomen, das Psychologen und Sozialwissenschaftler zu immer absurderen Thesen verleitet.

So läßt auch hier Klein-Ödipus wieder einmal grüßen: da geht was ab zwischen Mutter Forsythe, gespielt von Isabelle Carlson, und ihrem pubertierenden, den Macho schon in seinem Geschlecht angelegten Sohn Mike (Ottokar Lehrner): »Mikes Wäsche stinkt nicht, er ist ein ordentlicher Junge«, so verteidigt sie ihn vor ihrer Tochter, und riecht verzückt an seinem verschwitzten Baseballhemd. Sie sammelt heimlich eifrig Rabattmarken, damit Mikeboy sein Motorrad bekommen kann. Dreizehn Jahre würde es dauern, bis sie sie endlich zusammen hätte.

Die eigentliche Hauptperson ist jedoch Tochter Christine (Anette Daugardt). Sie ist diejenige, die ihre gesamte Familie, den Lehrer, die Mitschüler im Griff hat. Ganz in Rot gekleidet, tritt sie in der ersten Szene auf. Die Farbe ihrer Kleidung besitzt Signalfunktion. So hebt sich das Rot aggressiv von dem grauweißen Bühnenbild ab und suggeriert: Achtung! Nicht weiter! Im weiteren Verlauf zieht Christine darüber ein langes, schwarzes, altmodisches Kleid, und am Schluß ist auch das letzte anarchisch rote Accessoire verschwunden. Eigentlich müßte Poliakoffs Stück Liebe und Anarchie in Mamas Küche heißen, das scheint zumindest die Inszenierung ausdrücken zu wollen.

Die Schere als wichtiges Requisit wird zu Christines ständigem Begleiter. Damit will sie endgültig das Band, die unsichtbare Nabelschnur zwischen sich und der Mutter zerschneiden. Sie klebt sich die aus Illustrierten ausgeschnittenen männlichen Geschlechtsteile aufs Schienbein oder anderen auf den Pullover. Aha, denkt sich da der Freudianer unter den Zuschauern.

Die intensivste Szene der Inszenierung spielt sich zwischen Christine und ihrem verletzten Bruder ab. Rücklings koitiert sie ihren Bruder zu Tode, während man im Hintergrund das Grün der gefällten und entwurzelten Bäume leuchten sieht. »Es gab doch noch nie etwas, worin du gut warst, Christine«, setzt Mike eins drauf, und vom geilen, vermutlich auch impotenten Mitschüler Martin (Stefan Kolosko) muß sie sich anhören, was für ein versautes kleines Luder sie doch sei. Doch nicht aus Protest gegen ihren, wie sie meint »rechtswidrigen« Schulverweis ist Christine in einen Hungerstreik getreten. Er richtet sich vielmehr in selbstzerstörerischer Weise gegen ihren Körper als Objekt der Begierde, wie das Programmheft vermitteln will.

Natürlich kommt auch die Mutter ohne einen Trick nicht aus. Den Alkoholismus hat sie bereits hinter sich, nun leidet sie an Klaustrophobie. Etwas zu sachlich und unterkühlt ist Isabelle Carlson als Mutter, die sich nicht in die Karten schauen läßt und bei aller Provokation immer die Kontrolle wahrt. Am Ende wird sich Mrs. Forsythe einen Job suchen, und Christine verspricht, über ein paar Dinge neu nachzudenken.

Die männlichen Darsteller wirkten indessen nicht nur durch ihre Rollen blaß und mickrig. So endet die schwache Eingangsszene in einem inszenatorisch mißglückten Überrumpelungsversuch des Lehrers Lawson (Gerald Held) auf Mrs. Forsythe. Daß die Inszenierung sich zunehmend steigerte, war ein Verdienst der Darstellerin der Christine, die den Balanceakt zwischen Sadismus und kindlichem Spieltrieb beherrschte.

Bravos für die SchauspielerInnen, Applaus der Inszenierung, deren Strichfassung und Bühnenbild — eine Rampe mit einer sich nach oben verjüngenden Schräge (Symbol für das männliche Geschlecht?) — dem Stück zugute kam. Sabine Kaulitzki

Nächste Vorstellungen: 9., 10., 14. Juni im Ballhaus Rixdorf