Am Ende der Musik

■ Vor zehn Jahren starb Glenn Gould. Im Tempodrom erinnern Videos an den Pianisten

Niemand hätte wohl Glenn Gould zu Lebzeiten dazu bewegen können, in einem Zirkuszelt aufzutreten. Aber der monomanische Pianist, der sich seit 1964 auf keinem Konzertpodium mehr blicken ließ, ist tot. Er starb vor zehn Jahren einsam in seiner Hotelsuite in Toronto, nur noch telefonisch für Freunde erreichbar. Ein wenig gewaltsam und viel zu kurzfristig organisiert, versucht nun das Berliner Tempodrom die Legende aus den Schallplattenregalen in den öffentlichen Raum zurückzuholen — in das alternative Zirkuszelt eben, das eine möglicherweise heilsame Distanz zu Goulds auratischer Art absoluten Musizierens wahrt.

Gestern abend hat das Orchester der Komischen Oper ein kleines Festival nächtlicher Gould-Gedenkfeiern mit einem Symphoniekonzert eröffnet, heute und morgen ist der tote Meister selbst zu hören und — zu sehen. Denn Gould hat bis in sein letztes Lebensjahr für das Fernsehen gearbeitet, hat Bachs Kunst der Fuge und die Goldbergvariationen vor der Kamera eingespielt, hat vier Sendungen über die Musik des beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts produziert — und auch mal die Musik zu einem Zeichentrickfilm komponiert.

Das Tempodrom kann nun mit einer Retrospektive dieses Materials aufwarten, das bislang in Europa kaum zu sehen war. Der Veranstalter war gestern noch dabei, die Bänder zu sichten. Unbekannte Seiten von Gould sind nicht auszuschließen, aber selbst da, wo sie ausbleiben, vermittelt die Rückschau auf diesen seltsamen Eremiten des Klaviers überraschende Einsichten.

Denn der Fall Gould ist komplexer, als sein Nachruhm wahrhaben will. Schnell waren Kritiker in aller Welt bereit, an ein Genie zu glauben, an das vielleicht letzte dieses Jahrhunderts, und Gould selbst schien ihnen recht zu geben. Er lieferte bereitwillig, was die Konnotationen des sentimentalen Begriffs einsamen Künstlertums verlangten, er war unnahbar, rücksichtslos, schockierend schon durch die Art, sich an das Klavier zu setzen, die Maßstäbe der Konzertkonvention galten für ihn nicht. Auch der Abschied vom Publikum paßte in das liebgewordene Bild.

Falsch ist es doch, wie sich nun, im Abstand von zehn Jahren, besser zeigt, nicht zuletzt an jenem Werk, das wie kein anderes sein eigenes geworden ist: den Goldbergvariationen von Johann Sebastian Bach. Gould hat sie zweimal eingespielt, die erste Aufnahme aus den fünfziger Jahren begründete seinen Weltruhm. Kurz nach der zweiten, von der Fernsehkamera begleiteten, ereilte ihn der Tod. So sehr gingen diese Studiositzungen an die Grenzen des bloßen Interpretierens, daß man versucht ist, das frühe Lebensende des erst 50jährigen als ästhetische Konsequenz zu deuten. Wenn die Schlußoktave verklungen ist, kein Akkord bekanntlich, sondern ein Einklang, ist ein auswegloser Zustand erreicht. Was danach kommen könnte, ist nicht vorstellbar, nicht, weil keine weiteren Aufführungen dieses Stück möglich wären: sie liegen längst vor und dürfen in höherem Maße historische Gültigkeit beanspruchen als diese. Gould ist an dieser intimen, zugleich empfindsamen und gelehrten Musik gescheitert und zwang Bachs Text in seinen Untergang mit hinein. Nur ist das kein Scheitern des Genies, sondern eines zwanghaften Arbeiters an einem radikalen Konzept der medialen Reproduktion. Keine Verachtung des Publikums vertrieb ihn aus dem Konzertsaal, im Gegenteil, er wollte es mit der Schallplatte viel gründlicher bedienen, wollte ihm die Musik nicht als zufälliges Erlebnis, sondern als vollkommen durchsichtiges Erkenntnismittel zur Verfügung stellen, als vernünftiges Modell des Schönen also, nicht als Triebbefriedigung.

Die Kamera hat diesen Exorzismus als beängstigendes Drama eingefangen, das sich auf dem Gesicht eines kranken Mannes abspielt; seine Lippen sprechen jeden Ton nach, er traut dem Klang nicht, darf ihn nicht freigeben, ausschwingen lassen ins Unberechenbar-Irrationale, muß ihn wieder und wieder bannen. Manchmal dirigiert die Linke ein Gespensterorchester, die Finger versteifen sich dabei zu einer verzweifelten Kralle, die nichts mehr festhalten kann, Bachs Musik treibt einer Katastrophe zu: So gereinigt und perfekt ausgehört in jeder Nuance, verflüchtigt sie sich zusehends. Gould versucht mit merkwürdigen Romantismen in den letzten Variationen etwas zurückzuholen, was so nicht zurückzuholen ist. Diese — Gouldsche — Musik besitzt kein Thema mehr, nichts mehr, was sie an Bedeutung vermitteln könnte, sogar ihre Großform wird tautologisch auf ihre elementaren Partikel reduziert. Hörbar ist nur ein leerer Raum, der jede Struktur aufnehmen könnte. Goulds Gesicht wird dabei zur Fratze, während der Schlußwiederholung des Ausgangsthemas ist der Blick zur Seite gewandt, der Perfektionist mag nicht mehr hinsehen, wenn er könnte, hielte er sich die Ohren zu. Dann erlischt der Bildschirm, und es wirkt wie eine Erlösung aus einem schrecklichen Alptraum.

Die Bewunderung für Goulds Klavierspiel braucht unter dieser ernüchternden Diagnose nicht zu leiden, im Zirkuszelt ist nur der Preis dieser Kunst besser zu erkennen, die — glücklicherweise — bislang keine Nachfolger gefunden hat. Gould selbst hat nicht nur Musik folgenlos interpretiert, er hat ebenso komponiert, ohne Spuren zu hinterlassen. Auch daran möchte das Tempodrom erinnern. Im Zirkuszelt, dem unmöglichsten aller Konzertsäle, wird kommenden Freitag Goulds einziges Streichquartett erstmals in Deutschland aufgeführt. Niklaus Hablützel

Glenn-Gould-Filmnächte, 6.,7. und 12.6., 20.30 Uhr, Tempodrom