Rechtssicherheit — Ein frommer Wunsch?

■ Serie: Die Linke und die innere Sicherheit (Teil IV): Begegne mit Mißtrauen, wer von Rechtssicherheit spricht und nicht die gesellschaftlichen Verhältnisse berücksichtigt, vertritt der PDS-Abgeordnete Horst Kellner/ Polizei muß Bürgernähe praktizieren, nicht Herrschaftsinstrument sein

Wenn über Kriminalitätsentwicklung und Sicherheit diskutiert wird, verabschiedet sich traditionell die Linke: das Thema wird weitgehend der politischen Rechten überlassen; eigene Vorstellungen, wie sicher die Stadt zu sein hat, werden kaum formuliert. Der Verfassungsrichter Klaus Eschen hat im ersten Teil der Serie die Verlogenheit der Linken gegeißelt und gefordert, sie müßte die Polizei endlich als demokratische Institution anerkennen. Wolfgang Wieland, der innenpolitische Sprecher von Bündnis90/ Grünen wiedersprach Eschen: gesellschaftliche Umbrüche mit zunehmender Kriminalität dürften nicht zu einem Problem der Polizeidichte reduziert werden. Außerdem sei die Gleichung, mehr Polizei — mehr Sicherheit, unzutreffend. Die Feministin Halina Bendkowski plädierte für das Recht auf Sicherheit: Seitdem sich auch die »guten Männer« vor der zunehmenden Gewalt der »bösen Männer« fürchten, wächst die Chance einer weniger ignoranten Debatte über das Thema. Für eine konsequente Kriminalitätsbekämpfung tritt nun der PDS-Abgeordnete Horst Kellner ein; Rechtssicherheit habe aber bei weitem nicht nur einen Kriminalitätsaspekt. Der nächste Beitrag erscheint am Mittwoch nach Pfingsten. LeserInnen sind herzlich zur Stellungnahme eingeladen. (d. Red.)

Eine Vielzahl von Umfragen bestätigt: Neben den Wünschen nach Frieden, Gesundheit und sicherem Arbeitsplatz gehört der nach Rechtssicherheit zu denen, die besonderen Vorrang genießen.

Rechtssicherheit ist deshalb auch immer ein bevorzugtes Wahlkampfthema. Über Kriminalität beispielsweise läßt sich wunderbar schwadronieren. Politiker können sich an Äußerlichkeiten festhalten, können sich von außen her emotional aufheizen, können Zusammenhänge vertuschen, anderen die Schuld geben, den eigenen guten Willen demonstrieren und so weiter. Man tut scheinbar etwas für die Rechtssicherheit und weiß ganz genau, unter den gegebenen Verhältnissen kann es eigentlich nur schlimmer werden. Deshalb sei denen mit Mißtrauen begegnet, die, wenn sie über Rechtssicherheit sprechen, nicht die gesellschaftlichen Verhältnisse zum Gegenstand ihrer Betrachtungen machen. Nehmen wir Herrn Diepgen. In Vorbereitung der Dezemberwahlen 1990 verkündete er, daß er im Falle seiner Wahl energisch gegen Gewaltkriminalität auf den Straßen Berlins vorgehen werde. Freundlich lächelnd warb er mit seinem Großen- Jungen-Gesicht um Vertrauen für seine Partei, wohl wissend, daß an den gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen, den Wurzeln der Kriminalität, nichts geändert werden sollte.

Herr Diepgen ist gewählt worden. Er geht — wenn man seinen Worten glauben darf — energisch gegen Gewaltkriminalität vor. Vieles hat sich auf diesem Gebiet auch tatsächlich geändert. Allerdings — in ganz entgegengesetzter Richtung, als es mit den vertrauenheischenden Ankündigungen in Aussicht gestellt worden war.

Frauen haben heute Angst, sich abends allein auf die Straße zu wagen. Überfälle auf Taxifahrer sind an der Tagesordnung. Die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel in den Abend- und Nachtstunden ist nicht ohne Risiko.

War 1990 Gewaltkriminalität auf den Straßen des östlichen Berlins noch etwas, das vornehmlich aus amerikanischen Filmen bekannt war, hat sie sich inzwischen flächendeckend auf ganz Berlin ausgedehnt. Klargeworden ist inzwischen allerdings auch, daß Gewaltkriminalität auf den Straßen nur ein winziger Bruchteil der sich immer mehr verbreitenden Rechtsverunsicherung ist. Die Bürger der ganzen Stadt und dabei immer größere Bevölkerungskreise fühlen sich deshalb angesprochen beziehungsweise erheben die Stimme, wenn es um die Wiederherstellung der Rechtssicherheit geht. Viele fragen sich, ob das Chaos vorprogrammiert ist, und sehen in der Forderung nach mehr Staat — und im Hinblick auf die Kriminalität nach mehr Polizei — die einzige Perspektive, der Dinge Herr zu werden.

Aber nicht der Ausbau staatlicher Repression, sondern politisch bewußtes Angehen der tatsächlichen Ursachen gesellschaftlicher Widersprüche und Konflikte bietet Aussicht auf Lösung der vorhandenen Probleme.

Deshalb ist es schon reine Demagogie, wenn die große Koalition von CDU und SPD vornehmlich auf Polizei und Gerichte setzt, den eigentlichen Problemen jedoch systematisch ausweicht. Mit dem Durchpeitschen des ASOG, des Allgemeinen Gesetzes zum Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, in Berlin am 26. März 1992 haben CDU und SPD scheinbar zwar Entschlossenheit demonstriert, im Sinne von Rechtssicherheit haben sie allerdings nichts bewegt. Im Gegenteil. Mit diesem Gesetz haben sie geheimdienstliche Methoden der verschiedensten Art zum normalen polizeilichen Instrumentarium erklärt und damit fragwürdigen polizeilichen Aktionen Tür und Tor geöffnet.

Es ist offenkundig und eigentlich für niemanden zweifelhaft, daß die Beseitigung von Gebrechen der Gesellschaft keine polizeiliche Aufgabe ist. Die Polizei ist überdies nicht dazu in der Lage, Defizite der Politik auszugleichen. Gleiches gilt auch für die Gerichte. Dennoch werden Polizei und Gerichte immer wieder an die Front geschickt, wird der Unmut der Bevölkerung auf sie gelenkt, werden spektakuläre Aktionen und Einsätze gestartet, um zu zeigen, wer Herr im Hause ist.

Das fing schon im Herbst 1990 an, als in Berlin mit einem riesigen Polizeiaufgebot der Belagerungszustand geprobt und gegen Hausbesetzer in der Mainzer Straße vorgegangen wurde. Das setzte sich mit der kürzlich durchgeführten brutalen Knüppelaktion gegen Kriegsdienstgegner auf dem Bahnhof Alexanderplatz fort und fand schließlich auch in der mit einem polizeilichen Großeinsatz erfolgten Besetzung des PDS-Archivs seinen Ausdruck.

Auf der gleichen Ebene liegt die Abrechnung mit dem politischen Gegner von gestern. Heuchlerisch wird erklärt, daß sich die Mängel der Aufarbeitung der faschistischen Vergangenheit in bezug auf das SED-Regime nicht wiederholen dürften. Der bluttriefende Hitlerfaschismus und der offenkundig untaugliche Versuch, eine zum Kapitalismus alternative Gesellschaftsordnung aufzubauen, werden kurzerhand in einen Topf geworfen. Sozialismus ist eben Gotteslästerung par excellence, und jede Suche nach Alternativen zum Status quo ist ein für allemal mit dem Stempel des Kriminellen zu versehen.

Es ist aus dieser Sicht durchaus zu verstehen, daß die Abrechnung mit dem Systemgegner von gestern wichtiger als die Aufklärung und Verfolgung der Straftaten derjenigen ist, die sich im Zuge der Wiedervereinigung Deutschlands und der damit verbundenen Währungsumstellung Tausende von Millionen (man spricht von bis zu 12 Milliarden) DM illegal angeeignet haben.

Die Abrechnung mit dem politischen Gegner von gestern liefert die Rechtfertigung für die schamlose Enteignung der ostdeutschen Bevölkerung, webt den Nebelvorhang, hinter dem die ostdeutsche Wirtschaft niedergemacht wird und sich das westdeutsche Kapital von lästiger Konkurrenz befreit.

Für all dies gibt es zahllose Beispiele. Picken wir uns eins heraus: Mit Erstaunen müssen die Neubundesbürger heute zur Kenntnis nehmen, daß offenbar westdeutsche Banken den Wohnungsbau in der vormaligen DDR finanziert haben. In Wirklichkeit ist dies natürlich nicht so. Westdeutsche Banken haben keinen Pfennig zum Wohnungsbau in den Neubundesländern geleistet. Im Gegenteil, die Ostdeutschen haben sich diese Wohnungen mehr oder weniger vom Munde abgespart. Und dennoch: Heute sind sie die Schuldner, und die westdeutschen Banken sind die Gläubiger. Und morgen sollen die Ostdeutschen obendrein gegenüber diesen Banken tributpflichtig werden — in Gestalt von Wucherzinsen auf erfundene Schulden.

Ein solcher Raubzug — und es ist nur einer unter vielen — bleibt doch nicht ohne Rückwirkungen auf das Rechtsbewußtsein und damit auch auf die Art und Weise künftigen Handelns.

Oder nehmen wir — als weiteres Beispiel — den für jeden politisch normal denkenden Menschen schizophrenen Grundsatz »Rückgabe vor Entschädigung«, der Rechtsunsicherheit für Jahrzehnte geradezu institutionalisiert.

Rechtssicherheit hat also — wie sich zeigt — bei weitem nicht nur den Kriminalitätsaspekt. Mehr noch: Gewaltkriminalität ist in einer Vielzahl von Fällen überhaupt nur das letzte Resultat tieferliegender sozialer Gebrechen. Davor liegen der ständige Kampf mit einer maßlosen Bürokratie, die ständige Sorge um den Arbeitsplatz, die Angst vor der Obdachlosigkeit und totaler materieller Abhängigkeit und anderes mehr.

Damit kein Irrtum entsteht: Auch ich bin für konsequente Kriminalitätsbekämpfung. Diese entartet jedoch zur Sisyphusarbeit, wenn sie nicht immer auch auf die Ursachen der Kriminalität gerichtet ist. Solange dies nicht der Fall ist, braucht man sich nicht darüber zu wundern, daß an die Stelle von Bekämpfung immer mehr und mehr die Verwaltung von Kriminalität tritt. Auch was die Polizei anbelangt, hätte ich manches zu sagen, manchen Wunsch anzumelden.

Die eigentlichen Defizite in bezug auf Rechtssicherheit liegen jedoch tiefer. Und da müssen sich die Damen und Herren von CDU und SPD schon etwas einfallen und auch fragen lassen, wie lange sie noch in Sachen Rechtssicherheit bloß an der Oberfläche herumzuplätschern gedenken. Bürgernähe wäre insofern das entscheidende Stichwort. Sie wäre sicher nicht durch Anbiederung oder dadurch zu erreichen, daß den Bürgern suggestiv klarzumachen versucht wird, wie gut es die Polizei mit ihnen meint. Ein wirkliches Vertrauensverhältnis zwischen Bevölkerung und Polizei entsteht nur aus täglichem Kontakt und helfendem Zusammenwirken bei der Lösung anstehender (oft nur kleiner) Probleme. Und insofern ließe sich in der polizeilichen Arbeit schon einiges tun. Horst Kellner