Lingua e amore

■ Der kommunikative Flash durch Sprachreisen.

Der kommunikative Flash durch Sprachreisen VON RÜDIGER KIND

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orbert H. war von Kindesbeinen an alter Lateiner. Sein Vater, ein Altphilologe reinsten Wassers, legte ihm das „hic Rhodus, hic salta“ quasi schon in der Wiege in den Schoß. Von seiner Mutter, die als Simultandolmetscherin aus dem Lateinischen beim Erzbischöflichen Ordinariat von München und Freising arbeitete, bekam er das antike Feeling praktisch über die Muttermilch infusioniert. Kein Wunder, daß sich der kleine Norbert schon während seiner Schulzeit zu einem begnadeten Grammatiker entwickelte. Doch dann übermannte auch ihn die Adoleszenz.

Während seine Klassenkameraden im Partykeller Stehblues tanzten, gab Norbert sich den Wonnen der Deklinationen hin; statt auf dem Fußballfeld zu schwitzen, ließ er sich, bequem im Liegestuhl gelagert, Vergils Verse im Original auf der Zunge zergehen. Mit der Zeit wuchs er zu einem ausgebufften Altphilologen heran, vor dessen Kenntnissen sich selbst die Lehrer in acht nehmen mußten. Nur mit den Mädchen wollte es nicht so recht klappen.

Nicht ganz zu Unrecht galt er bei der Damenwelt für leicht verschroben, und wenn er sich zum Faschingsball in seine römische Tunika schwang, machte das aus ihm nicht unbedingt den Latin Lover. Sicher, Mädchen wie Marion F., die bei den englischen Fräulein ihr Schuldasein fristeten, fanden seine rhetorischen Figuren durchaus bezwingend, aber nach Hause bringen ließen sie sich dann doch lieber von einem GTI-Fahrer.

Auch während des Studiums änderte sich daran wenig. Wieder waren die anderen mit anderem beschäftigt: Häuserkampf, Sitzblockaden, Menschenketten. Damit machte Norbert sich nicht gemein. Statt in Brokdorf, Mutlangen und Wackersdorf weilte sein Geist in den philosophischen Hainen Griechenlands oder den Wandelhallen des Forum Romanum. Salve Caesar! Solchermaßen gewappnet, bewahrte sich seine Jungmännlichkeit vor dem schnöden Zugriff der niederen Lüste. Bewahrte? So ganz glücklich konnte Norbert mit seinem mönchischen Dasein aber nicht werden. Doch schüchtern wie er war, wagte er nicht, sich den Frauen zu nähern — und blieb beim Singular.

Abhilfe versprach in dieser mißlichen Lage — Norbert näherte sich immerhin seinem 25.Lebensjahr und dem ersten Staatsexamen — eine Annonce in der Zeitung: „Italienisch lernen in Florenz — interaktive Kommunikation und Kultur“. Vielleicht, nein, ganz sicher würde ihm eine gewisse Modernität der Kommunikationsformen guttun. Ein solides Fundament der italienischen Sprache hatte er sich ja wohl aufgebaut...

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ls Norbert während der Sommerferien in Florenz ankam, schwitzte die Stadt vor brütender Hitze und war von Touristen bevölkert. Auf Anhieb fand er die „Scuola Macchiavelli“, die in einem alten, heruntergekommenen Gebäude ein Stockwerk belegte. Im Vorraum wimmelte es schon von Deutschen, die sich offenbar gerade für die Sprachkurse anmeldeten.

Beim Einstufungstest schnitt Norbert nicht so gut ab, wie er es in Schule und Uni gewohnt war. Er wurde in die Anfängergruppe gesteckt. Mit ihm waren noch elf weitere Deutsche im Kurs, allesamt auf der Suche: nach der Italianità, dem Geheimnis mediterraner Lebensfreude und, wie sich schon bald herausstellte, nach einem Partner respektive einer Partnerin. Das Sprachelernen war für die meisten nicht mehr als ein ziemlich lästiges Vehikel bei der Verwirklichung ihrer Ziele. Bernadette, Sozialpädagogin aus dem Fränkischen, tat sich schon am ersten Tag mit Frank, einem arbeitslosen Juristen aus Kassel, zusammen. Hubert aus Wuppertal, Landschaftsgärtner mit einer halben ABM-Stelle bei der Stiftung „Kaulquappe“, fand kurz darauf in Julia, einer forschen Architekturstudentin aus Bingen, die ideale Partnerin. Maria, die Lehrerin, stammte aus Volterra und konnte gut Deutsch. Ab sofort wollte sie nur Italienisch im Unterricht hören.

Sechs Stunden Unterricht täglich, Grammatikübungen, Dialoge, Rollenspiele, jeden zweiten Tag ein Test — das Kursprogramm war anspruchsvoll und dichtgedrängt. „Quatschen, qualmen, Körpersprache“ wäre wohl das geeignetere Motto dieses Sprachkurses gewesen. Bei der indirekten Rede kamen sich die SchülerInnen näher, und je besser sie sich untereinander verstanden, desto weniger interessierten sie sich für die Verständigung im Italienischen.

Eines verband nämlich alle KursteilnehmerInnen: Sie waren Singles. Mit einem starken, sichtbaren Drang zur Beendigung dieses Zustands. Fred schleppte schon an einem der ersten Abende Helga in die Disco ab. Herbert hatte aus seinemanders reisen- Führer die Adresse einer Rohkost-Trattoria, in die er Annemarie „auf eine Vollkornpizza“ einlud. Hatten die Paare sich erst einmal gefunden, loteten sie gemeinsam lieber die Grammatik der Extase aus.

Nur Norbert guckte, wie üblich, in die Lernmittel. Nach dem Unterricht setzte er sich in sein Hotelzimmer und büffelte Verbformen, paukte den Konjunktiv, bimste „il periodo ipotetico“. Bald war er der Beste im Kurs — und der einzige, der abends alleine blieb.

Bis er eines Sonntags durch die sonnendurchglühten Gassen der Florentiner Altstadt schlenderte, auf der Suche nach hypothetischen Vergnügungen. In einem Straßencafé entdeckte er eine junge Frau, allein an einem Tisch sitzend, in die lingua italiana per stranieri vertieft. Das gleiche Lehrbuch, das auch Norbert benutzte! Leicht benommen trat er an ihren Tisch.

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cusi, Signorina, è libero questo posto?“ Verwundert blickte sie von ihrer Lektion auf. „Si, questa piazza è libera.“ Norbert setzte sich, schüchtern lächelnd, und wußte nicht so recht, was er sagen sollte. Stockend versuchte er, die Konversation in Gang zu bringen. Wunder über Wunder, ein munteres Geplauder, zuerst italienisch verkorkst, dann auf deutsch, entspann sich. Die wundersame Zeitenfolge der italienischen Sprache legte den süßen Schleier ihres letztlich unerforschlichen Mysteriums über beider Schultern. Beide entdeckten, daß sie gemeinsame Lieblingswörter hatten, Lieblingszeiten, Lieblingsfälle...

Mildred war Kunstgeschichts-Studentin auf Renaissance-Erkundungstour. Sie hatte an der „Accadémia Dante“ ihren Italienisch-Kurs belegt. Gemeinsam spazierten sie durch die sonntäglich ausgestorbenen Straßen, und daß Norbert ihr die lateinischen Inschriften auf sämtlichen Gedenktafeln übersetzen konnte, begeisterte Mildred vollends. Bezaubert vom genius loci, betäubt vom Atem der Geschichte, merkten sie nicht, wie weit sie sich vom Zentrum entfernt hatten. Schon standen sie auf der Piazzale Michelangelo, genossen den Blick auf die Stadt. Und sie redeten und redeten, italienisch, deutsch, ganz dem hic et nunc verhaftet, wie der Lateiner zu sagen pflegt. Und dann schlug Norbert Mildred vor, gemeinsam die Hausaufgaben zu machen...