ZWISCHENDENRILLEN VONPETERTHOMÉ

Als würde er jeden Moment abheben, unruhig auf den Zehenspitzen, die Klarinette fast waagerecht vor sich haltend, so sah ich Don Byron erstmalig vor fünf Jahren in der Band des Posaunisten Craig Harris. Zu hören war ein stilsicherer Improvisator, der bereit und in der Lage ist, sich in die ambitioniertesten Jazzprojekte New Yorks vorbehaltlos einzubringen. Beliebt bei Musikern wie Hamiet Bluiett und Butch Morris oder auch bei Bobby Previte und Marc Ribot ist Don Byron ein exzellenter Instrumentalist und sideman. Seine Fähigkeiten als Komponist blieben einer breiteren Öffentlichkeit bisher verborgen.

Seine Studien bei George Russell und bei Ran Blake am Third Stream Departement des Bostoner New England Conservatory brachten Don Byron neben einschlägigen Kenntnissen in Jazz und klassischer Musik auch eine große Offenheit für die Folkloren der Welt. Sein Debütalbum Tuskegee Experiments bietet nicht nur breite stilistische Varianz, sondern geradezu monströse Kreuzungen: Hardbop mit dem Rhythm and Blues, zum Beispiel.

Alle neun Titel der Studioaufnahmen sind „Comprovisationen“, also Mischungen aus notiertem Material und im musikalischen Prozeß entstandenen Improvisationen. Höchste Intensität erreichen vier Stücke mit dem Neo-Bop-erfahrenen Rhythmusgespann Ralph Peterson jr. (Schlagzeug) und Lonnie Plaxico (Bass) sowie dem Downtown-whiz und Dekonstruktivisten an der E-Gitarre, Bill Frisell. Er und Don Byron verstehen sich bis hin zum Unisono (Klarinette und E-Gitarre!) blind. Mit spielerischer Leichtigkeit lassen sie einen Bossa Nova in seine Bestandteile zerfallen — Samba und Cool-Jazz — um ihn darauf noch süßer zum Klingen zu bringen (Next Love).

Mainstem, eine Ellington-Komposition, wird selbstverständlich auf den Kopf gestellt, wobei Peterson jr. und Plaxico für den unerläßlichen Swing sorgen. In Tears schwelgt die Klarinette ganz osteuropäisch vom Vibrato bis hin zum Aufschrei, und man hört, daß Don Byron jahrelang Solist der 14köpfigen Klezmer Conservatory Band war.

Er ist also ein schwarzer Musiker ohne Berührungsangst vor fremder Kultur, der allerdings die Gelegenheit des Debütalbums nutzt, die soziale Gleichberechtigung gegenüber der weißen amerikanischen Mehrheit einzuklagen. „Tuskegee“ nennt er diesen Ort der Unterdrückung, ein Nirgendwo und Überall der afroamerikanischen Erfahrung. Laut Don Byron begann dort auch 1932 das längste humanmedizinische Experiment der amerikanischen Geschichte. Mehr als die Hälfte der 400 vom öffentlichen Gesundheitsdienst ausgesuchten Schwarzen hatte Syphilis, während der Rest eine nichtsyphilitische Kontrollgruppe bildete. Keiner der Beteiligten wurde über seinen Zustand informiert, und alle wurden sie über 40 Jahre lang beobachtet, aber nicht behandelt, alles nur, um den tödlichen Krankheitsverlauf der Syphilis zu dokumentieren. Schwarze Mediziner begleiteten das Massenopfer und garantierten die „wissenschaftlichen“ Ergebnisse. Im Titelstück Tuskegee Experiment faßt der Dichter Sadiq diese Tragödie in fünf erschütternde Strophen und präsentiert sie im Sprechgesang. Der Vortrag gipfelt in der — wie mir scheint — paradoxen Feststellung, daß die syphilitischen Kinder niemals der Klarinette Sidney Bechets lauschen konnten, während Bechet zur gleichen Zeit selbstgefällig mit seiner Karriere in Paris beschäftigt war.

In dem anschließenden Titel Auf einer Burg, eine Komposition Robert Schumanns, hebt Don Byron im Duett mit dem Pianisten Joe Berkovitz die bitter-düstere Stimmung des Titelstücks zugunsten einer inbrünstigen, melancholisch anmutenden Ballade auf.

Ebenfalls im Duett, diesmal mit dem Bassisten Reggie Workman, läßt Don Byron eine gelungene Free-Form-Studie Gestalt gewinnen (In Memoriam: Uncle Dan). Auf Quartettformat verstärkt durch den Schlagzeuger Pheeroan Aklaff und die Geigerin Greta Buck, läßt er ein Gemälde entstehen, in dem sich der Free-Jazz mit der modernen europäischen Klassik mischt, und nennt das Stück nach dem mexikanischen Maler Diego Rivera. Dieser machte die Geschichte seines Volkes zum Thema seiner Kunst, und Don Byron spürt die geistige Verwandtschaft.

Auch um „Tuskegee“ endgültig von der Landkarte einer zukünftig menschlichen Welt zu streichen, komponiert und spielt er seine vielfältigen Formen — aufgeschlossene und durchaus originelle Musik, die Don Byron in seinem Antrag auf urheberrechtlichen Schutz unter den negierenden Etikett „Nottuskegeelike Music“ subsumiert.

Don Byron, »Tuskegee Experiments«, Elektra Nonesuch, 7559-79280-2

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