Die deutsche Frage als Einbahnstraße?

■ Die Autoren des Buches »Die volkseigene Erfahrung« stellten sich im Brecht-Zentrum dem Publikum

Unvermeidlich kreiste das Gespräch um die eine, zentrale Frage, immer enger wurde das Gedankennetz um das Gesprächsthema, das seit jenen bewegenden und bewegten Tagen im Oktober und November 1989 wieder — oder erst recht in aller Munde ist. Nach einer Stunde fiel der Begriff: die Deutsche Nation. Man sah deutlich, wie die Worte gegen seinen Willen aus ihm, dem Gast im Brecht- Zentrum, herausdrangen — man spürte das fast schon materiell faßbare Fragezeichen, das fortan im Raum schwebte. »Die Deutsche Nation« — qu'es-que c'est?

Lutz Niethammer, Alexander von Plato und Dorothee Wierling stellten sich — unter der sachkundigen und kritischen Gesprächsleitung von Tanja Bürgel und Ina Merkel — einem schwitzenden Publikum, die »Ethnologie des Inlands hinter der Mauer« zu erklären. Bereits seit 1985 versuchte das Team die DDR zu erforschen. Zu einer Zeit also, »in der sich kein Schwein in der BRD für die DDR interessierte« (Niethammer; anschließendes Protestgemurmel aus dem Publikum), versuchten die drei Historiker und erfahrenen Forscher der »Oral History«-Methode, die Industrieprovinzen der DDR um Eisenhüttenstadt, Bitterfeld und Chemnitz — damals noch Karl-Marx-Stadt — forschend unter die Lupe zu nehmen. Diese Methode will durch Analyse von Lebensgeschichten einzelner Personen zu einer qualitativ neuen Geschichtsschreibung gelangen.

Antrag abgelehnt. Oral History in der DDR, betrieben von Wessis? Undenkbar in einem Land, in dem akribisch über die Worte, die aus Volkes Mund kamen, gewacht wurde. Doch Erich Honecker himself zeigte sich aus bis jetzt noch nicht erforschten Gründen wider alle Erwartungen gnädig: die Staatsratseingabe hatte Erfolg (wozu Johannes Rau auf Westseite angeblich auch seinen Teil beigetragen hat) — 1987 führten die Westwissenschaftler 150 Interviews mit DDR-BürgerInnen der Jahrgänge 1907 bis 1932.

Die volkseigene Erfahrung heißt der »Backsteinziegel«, wie Niethammer das daraus entstandene Buch kokett nennt — und will die Westdeutschen dazu verführen, einige Ostdeutsche in ihren individuellen Lebensentwürfen kennenzulernen. Zwar mochte wohl keiner der Anwesenden den Wert der lebensgeschichtlichen Forschung bestreiten, dennoch wurden Niethammer, von Plato und Wierling mit Argumenten konfrontiert, die an den Streit um qualitative und quantitative Forschung zwischen dem Positivisten und Kommunikationstheoretiker Bernard Berelson und dem Filmtheoretiker und -kritiker Siegfried Kracauer Anno 1952 erinnert. Wie lassen sich anhand von Einzelerscheinungen dahinterliegende Strukturen erkennen? Welches Erklärungspotential bergen die von den Befragten selbst zensierten Biographien, die mit einem Fremdverständnis von Forschern analysiert werden, welche obendrein zugeben, damals wenig von der DDR gewußt zu haben?

Hier konnten die drei HistorikerInnen nur wiederholt darauf hinweisen, daß es sich bei den ausgewerteten Interviews um Analysen der Lebensläufe handelt. Ein Hinweis auf die ordnenden, dahinterliegenden Strukturen sei jedoch in den Handlungsmustern der einzelnen zu erkennen, die ihnen ein Leben (in Widersprüchen) ermöglichten. Mithin versuche das Buch die »Konsequenz der Ambivalenz zwischen eigener Identität und dem, was staatlicherseits erlaubt war«, zu beleuchten.

Daß dabei aber nicht »der« oder »die« Ostdeutsche zwischen Zeilen gepreßt werde, verstehe sich von selbst. Entstanden ist ein Spiegel dessen, was an vielschichtigen kulturellen Existenzen unter der Fuchtel der SED trotzdem möglich war. Das Team habe nämlich bereits 1987 entdeckt, daß »etwas bröckelte« in der DDR. Der von außen gewonnene Eindruck einer stabilen DDR sei erschüttert worden — hatten die Interviewer in ihren Gesprächen doch Unstimmigkeiten entdeckt, deren Bedeutung von der gleichmachenden Ideologie unterdrückt wurde und folglich in keinem Geschichtsbuch auftauchten: Sie sahen unter anderem eine »große Kulturkrise in der DDR anstehen« ob der Undurchlässigkeit der Erfahrungen zwischen den Generationen. Die Früchte der Aufbauzeit, über deren Wert sich die ältere Generation angenehm bewußt gewesen sei und der ihre Sicht auf die DDR geprägt habe, sei den Jungen nicht zu vermitteln gewesen. Außerdem entdeckten die Autoren eine bis dahin nie anerkannte regionale Unterschiedlichkeit sowie die Problematik der Umsiedler, die aus den ehemaligen Ostgebieten in die DDR gekommen waren. Sie entdeckten aber auch die Bedeutung der Frauen in der DDR — dem »weiblichsten Land der Erde« — deren Probleme nicht angemessen berücksichtigt worden seien. In der Nichtbeachtung dieser Probleme liege die Wurzel des Zusammenbruchs.

Die deutsche Frage aber, dieser Eindruck drängte sich dem Team immer stärker auf, erwies sich als Einbahnstraße der Orientierung: Die DDRler orientierten sich mit Hilfe des »Klassenfeindes auf dem Dach« (so hieß die westwärts gerichtete Fernsehantenne im Parteijargon) an dem, was westlich des Eisernen Vorhangs passierte. Alexander von Plato: »Die nationale Frage wurde im Badezimmer, in der Küche und am Trabant gelöst«: West-Kosmetika, Markenprodukte und Aufkleber projizierten eine Identität. Die nationale Frage materialisierte zum Fetisch »Ware«. Seit der »Wende« jedoch offenbart sich, daß sich die Gefühle zwischen Ost und West stauen, wie weiland die Trabis, und schlimmstenfalls durch den Fluß der Zeit die Elbe hinabgespült werden — die »deutsche Identität« für immer als Mythos entlarvend.

Oder ist da doch mehr als ein Mythos der »deutschen Identität«? Ist da vielleicht ein alle verbindender Konservatismus, der schon längstens auch in der DDR festzustellen war? So unangenehm es Alexander von Plato ist — und er entschuldigt sich bei den ostdeutschen ZuhörerInnen—, aber just das Konservative der DDR-Bürger habe ihn überrascht. Ist es also das: »die« Deutschen — ein einig Volk von Spießern, die nichts von sich wissen? Was ist dagegen zu tun?

Aus dem Publikum heraus wurden kleingruppendynamische Wochenendseminarprozesse zum gegenseitigen Kennenlernen verordnet — vor allem für diejenigen Ostler und Westler, die zusammen arbeiten. Ob sich knappe 80 Millionen so aber nähertreten können, bezweifelt Dorothee Wierling, die inzwischen in Leipzig lehrt — sie ermuntert die Ostdeutschen allerdings, die Wessis doch mal genauso zu befragen und zu durchforschen, wie es derzeit mit ihnen gemacht würde. Offensichtlich ist diese Einbahnstraße der Forschung und Begutachtung eine Spätfolge des Umstands, daß sich zu Mauerzeiten in der BRD eben »kein Schwein« für die DDR interessiert hat und folglich auch nichts bekannt war über das DDR-Alltagsleben.

Bedauert wurde von der Gruppe, daß sie 1987 ausschließlich die ältere Generation befragt haben. Die authentischen Erfahrungen der Jungen in dieser Zeit — sie scheinen verloren. Selbstverständlich hat das Team nach der Wende nun versucht, mit den Interviewpartnern von damals zweite Gespräche zu führen. Aber nur 10 Prozent waren dazu bereit — bezeichnenderweise vorwiegend jene, die nicht in der SED waren, sondern der Kirche oder Blockparteien nahestanden oder bürgerlicher Herkunft waren. Diese Reaktion, sie verdeutlicht nochmals, wie man »Oral History« betrachten muß: als Produkt der Aussagen von Personen, die etwas erzählen wollen — und die nur das sagen, was sie wollen — allen Unkenrufen zum Trotz, die die Allmacht des Interviewers als verzerrendes Moment betrachten. Petra Brändle