Rio von unten, 2. Teil

Ein weiterer Einblick in die Wirklichkeit, die den Teilnehmern der Umweltkonferenz vorenthalten wird. Joao über das Überleben in der Illegalität  ■ Von Andreas Weiser

Am letzten Donnerstag brachten wir Andreas Weisers Interview mit dem Büroboten Carlos aus Rio de Janeiro. Carlos erzählte, warum er das Überleben in Legalität dem in der Illegalität vorzieht. Joao ist ein Freund von Carlos. Er war, als Andreas Weiser ihn in Carlos' Hütte traf, gerade acht Tage auf freiem Fuß. Acht Jahre hatte Joao in dem Gefängnis auf der Ilha Grande, etwa hundert Kilometer südwestlich von Rio de Janeiro, verbracht, über das er hier erzählt. Das Interview wurde vor knapp einem Jahr geführt. Joao ist inzwischen tot. Er wurde in einer Favela von Rio als zweiter Boß einer Drogenhändlermafia von der Polizei oder einer rivalisierenden Bande erschossen.

Joao: Es war der 16. März 1983, der zweite Tag des Karnevals. An diesem Tag überfiel ich eine Villa, deren Besitzer ein Goldhändler und Geldverleiher war. Ein Wucherer also. Ich mußte ihn mitnehmen, weil sein Auto mit einer Reihe von Alarmeinrichtungen ausgestattet war, und ich alleine damit nicht weggekommen wäre. Autos mit solch einer Alarmeinrichtung kann man nämlich mittels Fernsteuerung von zu Hause aus zum Stehen bringen. Folglich sperren wir normalerweise Fenster und Türen des Autos zu und nehmen unsere Opfer eben mit. Ich hab' ihn also entführt und ihn bis in die Nähe des Einkaufszentrums Barra Shopping mitgenommen. Dort hab' ich ihn auf die Straße gesetzt und bin abgehauen. Kurz danach bin ich dann in einen „Blitz“ geraten. Ein Blitz ist eine Straßensperre der Polizei, die mit acht bis zehn Wagen alle vorbeifahrenden Autos kontrolliert. Es war das 38. Polizeirevier, also das Braz de Penna, das mich hopsgenommen hat. Nach mehreren mißglückten Fluchtversuchen landete ich schließlich für drei Monate in Isolationshaft. Es war wie in einer Schublade. Eine Zelle, in der zum Ausstrecken nicht mal 80 Zentimeter Platz war, von aufrechtem Stehen ganz zu schweigen. Drei Monate mit der Aussicht, auf die Ilha Grande geschickt zu werden, wo es Nacht bleibt und die Morgendämmerung niemals anbricht.

taz: Warst du schon Mitglied einer Mafiaorganisation, oder hast du immer allein gearbeitet?

Nein, erst als ich auf die Ilha Grande kam, wurde ich Mitglied einer Bande. Denn dann gehört man zu einer Familie. Ich bin ein Mitglied dieser Familie geworden. Mitglied des „Comando Vermelho“.

Ich hab' mich also erst innerhalb des Gefängnisses für eine Seite entschieden, um nicht zwischen die Fronten zu geraten. Man kann sich nicht raushalten. Klar gibt es Leute, die versuchen, sich weder für die eine noch für die andere Seite entscheiden zu müssen, aber das geht nie lange gut. Entweder bekennt man Farbe, oder du mußt auf Nummer Sicher gehen und irgendwie aus dem Gefängnis verschwinden. Sonst bist du von allen anderen isoliert. Das ist dann wie eine zusätzliche Strafe. Ich für meinen Teil habe mich damals für die richtige Seite entscheiden, das „Comando Vermelho“. Die andere Bande war die „Falange do Jacare“. Dann gab es da noch die „Quadrilha da Zona Sul“.

Was passiert am Tag der Ankunft im Gefängnis?

Man kommt in Mangaratiba an. Steigt in ein Motorboot und fährt durch die Vila do Abraao. Im Schiffsbauch sind alle Häftlinge zusammengepfercht. Keiner weiß, was einen erwartet. Im Gefängnis wirst du von niemandem empfangen. Selbst ein Bekannter wird erst mal abwarten, wie du dich im Alltag verhältst. Er wird nicht mal sagen: „Hallo mein Freund.“ Er wird überhaupt nichts sagen. Mit deinen Klamotten in der Hand gehst du also auf die Suche nach einer Bleibe. Du gehst von Tür zu Tür, klopfst überall an und fragst, ob es einen festen Platz für dich gibt. Irgendwann hast du dann einen Platz gefunden.

Und dann sind da diese Leute, die dir schöne Augen machen. Besonders dann, wenn du gut aussiehst. Die mustern dich, und wenn du nicht alle deine Sinne beisammen hast oder ihnen nicht direkt in die Augen schaust... Also irgendeiner bietet dir zum Beispiel eine Zigarette an, du nimmst sie. Er gibt dir eine zweite. Das nächste Mal gibt er dir ein Stück Seife oder irgendwas anderes. Wenn du nur ein wenig von dem annimmst, was dir angeboten wird, hast du schon nachgegeben.

Was wollen sie denn als Gegenleistung?

Sie wollen deinen Arsch. Wenn du nicht nachgibst, mußt du kämpfen. Und so suchst du dir eine Seite aus. Du darfst aber nie vergessen, daß die anderen genauso stark sind. Jeder hat Waffen, Revolver, es wimmelt von Messern im Gefängnis.

1983 kam es zu einem Krieg. Zwei Studen lang wurden Schüsse innerhalb des Gefängnisses gewechselt. Acht Leute sind an diesem Tag umgekommen. Da ich mich für eine Seite entschieden hatte, konnte ich mich da nicht raushalten. Die Polizei allerdings hielt sich bei dieser Schießerei völlig raus.

Aber ist denn die Polizei im Gefängnis nicht präsent?

Die Polizei bleibt draußen, vor der Mauer. Die Wache achtet nur darauf, daß du nicht über die Mauer springst. Innerhalb des Gefängnisses haben die Häftlinge das Sagen. Es vergehen Wochen, ohne daß die Gefangenen nachgezählt werden.

Wer bringt euch denn das Essen?

Die Gefangenen selbst kochen das Essen im Gefängnis. Die Polizei liefert lediglich die Nahrungsmittel. Die Polizei achtet nur darauf, daß es zu keiner Flucht kommt. Innerhalb des Gefängnisses hat der Gefangene das Sagen. Die Polizei macht nichts. Die werden eben nur im Falle eines Massenfluchtversuchs oder einer Revolte aktiv, zum Beispiel wenn du das Gefängnis in Brand steckst oder die Wache als Geisel nimmst. Dann besetzt die Polizei das Gefängnis. Nebenan ist nämlich gleich die PM stationiert [„PM“ steht für policia militar, eine kasernierte Polizei, die zugleich dem Innenministerium des Bundesstaats Rio und dem nationalen Verteidigungsministerium untersteht, A.d.R.].

Eine Zeitlang wurden die Gefangenen zu Familienbesuchen, oder um dem Richter vorgeführt zu werden, nicht in das benachbarte Gefängnis Frei Caneca, sondern nach Agua Santa verschifft. Einmal wurden dort 50 Gefangene jeder Fraktion in eine große Zelle zusammengeschlossen. Das führte zu einem Massenmorden. Zahlreiche Leute sind gestorben, viele landeten im Krankenhaus. Die Polizei macht das vorsätzlich. Für die haben Straftäter nicht den geringsten Wert.

Warst du auch da drin?

Klar war ich drin, mit Waffe natürlich. Da konnte man nicht ohne Waffe rein.

Und die Polizei ließ euch völlig unkontrolliert da rein?

Die Durchsuchung nach Waffen wird immer sehr schlampig gehandhabt. Es gibt Gefangene, die in der Putzkolonne arbeiten, die zu allen Teilen des Gefängnisses dort Zugang haben. Einige dieser Gefangenen waren mit uns verbündet. Und über die erhielten wir Taschen voller Messer. So gewannen wir die Kontrolle über die Situation im Maracana — so nennt man dort diese Gemeinschaftszelle. Die Waffen wurden von den Leuten aus der Putzkolonne mittels eines Seils durch den Lüftungsschacht zu uns heruntergelassen. So bewaffneten wir uns. Die anderen von der Falange Jacare hatten gute Kontakte zur Polizei. Die wurden so gut wie gar nicht kontrolliert.

Und die Polizei macht das vorsätzlich?

Genau.

Aber ihr macht das Spiel mit, warum?

Auf der Ilha Grande herrscht ein Klima ständiger Anspannung. Du mußt mit einem Messer in der Hand schlafen.

Du hast doch acht Jahre dort verbracht. Diese Dinge, von denen du da sprichst, passieren doch nicht jeden Tag. Was also hast du an normalen Tagen da gemacht.

Der normale Gefängnisalltag wird durch Glücksspiele bestimmt. Man spielt, um an Geld zu kommen. Drogenhandel gibts natürlich auch, sowie Handwerk und einige Leute, die außerhalb des Gefängnisses arbeiten. Um neun gehen die raus, um 16Uhr müssen sie zurück sein. Zeitüberschreitungen werden nicht zugelassen. Man läßt sie nur unter Bewachung raus. Die Polizei bewacht sie mit Maschinengewehren. Es gibt die Gruppe der Straßenarbeiter, die Gruppe der Leute, die Gemüse anbauen, das dann von der Polizei in der Stadt verkauft wird. Dann gibt's die Leute, die im Dschungel Bäume fällen, um Brennholz für den Ofen der Bäckerei herzustellen. Auch die werden von der Polizei bewacht. Diese Arbeiten außerhalb des Gefängnisses bieten eine gute Gelegenheit zu fliehen, aber das muß sehr gut vorbereitet werden. Man braucht Monate, um alles zu besorgen, was dazu nötig ist, und bis du das Meer sehen kannst, vergehen zehn bis 15 Tage.

Wie gelangen die Drogen und Waffen ins Gefängnis?

Die Drogen, also das Kokain, kommt normalerweise mit der Post, ganz einfach in Briefumschlägen, ins Gefängnis. Auf diesem Weg maximal nur jeweils zwei Gramm. Aber wenn du zehn Briefe bekommst, hast du 20 Gramm. Darüber hinaus gelangt es in Zahnpastatuben, Seifenstücken, Klopapierrollen, die allesamt mit Geschenksendungen kommen, zu uns.

Und die Polizei weiß nichts davon?

Nein, sie weiß es nicht. Und wenn sie es wüßten, es kommen ja so viele Päckchen... Einige Päckchen werden zwar durchsucht, andere aber gehen einfach durch. Die Päckchen werden in Anwesenheit der Häftlinge geöffnet. Es kommt oft vor, daß sie die Drogen entdecken, aber dann reißen wir ihnen das Zeug aus der Hand und hauen damit ab, zurück in unser Gebäude.

Übrigens werden die Drogen auch von Besucherinnen ins Gefängnis geschmuggelt. Die Frauen verstecken das Zeug in der Vagina.

Die Waffen kamen bis vor einigen Jahren in Gasbehältern, diesen kleinen Gaskartouchen in den Knast. Sie wurden auf der Straße mit einer Säge aufgemacht, ein Revolver darin deponiert und der Behälter wieder mit Gas gefüllt. Der Besuch nahm den Behälter dann mit rein. Drinnen wurde dann das Gas rausgelassen, der Behälter aufgesägt, und die Waffe rausgenommen.

Hattest du was mit Drogen zu tun?

Nein. Auch nicht innerhalb des Gefängnisses. Da habe ich als Mechaniker gearbeitet.

Wer hat dir denn diese Arbeit gegeben?

Alles ist von den Häftlingen organisiert. Die Küche, der Kessel, das Handwerk, Mechanikerwerkstatt. Die Polizei bestimmt da gar nichts.

Wer macht denn den Kontakt zur Polizei?

Na, wir selbst. Wenn jemand eine bestimmte Aufabe übernehmen kann, dann übernimmt er das eben.

Und wer liefert das Arbeitsmaterial?

Der Staat.

Werdet ihr bezahlt für eure Arbeit?

Nein, wir bekommen nichts. Es gibt eine Art Versicherung für die Zeit nach dem Gefängnis: du gibst deinen Namen, dann erhältst du ein Konto bei der Staatssparkasse. Wenn du raus kommst, erhältst du binnen zehn Tagen gegen Vorlage deines Ausweises das Geld.

Also acht Jahre bekommt man als Gefangener keine Polizei zu sehen, ist das so?

Die Polizei kommt zum Zählen der Gefangenen ins Gefängnis, sonst nur in Notfällen.

Und niemand schließt euch nachts in eure Zellen ein.

Genau so ist es. Wir organisieren ren alles selbst, zum Beispiel den CRI, den Clube Recreativo dos Internos (Freizeitclub der Insassen). Darüber ist unsere Fußball-Liga organisiert. Alles Material wird von uns besorgt, von der Straße. Und zwar von befreundeten Dealern: Fußbälle, Trikots etc. Handwerkliche Arbeiten, die wir machen, werden aus Holz gefertigt, die die Holzfällerkommandos aus dem Dschungel mitbringen. Diese Sachen liefern wir dann raus, und es wird im Straßenhandel verkauft.

Dirigieren die Kommandos innerhalb des Gefängnisses eigentlich auch Aktionen außerhalb des Gefängnisses?

Ja. Ein im Gefängnis sitzender Chef eines „boca de fumo“ hat da in seiner Favela, wo er Boß ist, ja noch eine Familie, also Freunde, mit denen er eine sehr enge Beziehung hat. Da gibt es keinen Verrat.

Wie hast du es geschafft, diese acht Jahre zu überleben. Hast du auch jemanden getötet?

Ich habe nur einmal jemanden umbringen müssen, und zwar während des Krieges, über den ich dir erzählt habe.

Mein normaler Zeitvertreib, um zu überleben, waren Körpertraining und meine Fluchtpläne, um aus dieser Routine, dieser Sehnsucht nach Freiheit zu entkommen. Wenn du versuchst zu entkommen, wirst du von Freunden mit anderen Augen gesehen. Du bist für sie ein Kämpfer.

Was passiert denn, wenn sie dich nicht akzeptieren?

Wer nicht respektiert wird, weiß, daß er sterben muß. Denn wir laufen nur bewaffnet herum.

Hast du nicht das Gefühl, daß die Polizei das bewußt zuläßt, damit ihr euch gegenseitig umbringt?

Es war zunächst so, daß die Polizei nicht in der Lage war, uns mit dem Nötigsten zu versorgen, das heißt, es stand gar nicht zur Debatte, die Einfuhr von Sendungen mit lebenswichtigen Gütern zu unterbinden. Der Staat ist nicht in der Lage, außer Lebensmitteln irgend etwas zu besorgen. Weder Matratzen noch Decken, noch Reinigungsmittel, der Staat ist pleite. Also ist es die Familie des Gefangenen, die ihn versorgen muß. Und wo es keine Kontrolle gibt, kommt eben alles rein.

Allerdings sind das unmenschliche Bedingungen. Es gibt keine Medikamente. Wenn du einen Schuß bei einem Fluchtversuch abbekommst, bist du tot, bevor du im Krankenhaus landest, nur weil es bei uns keine medizinische Versorgung gibt. Die einzige Rettung sind die Nonnen, die ins Gefängnis kommen. Sie sammeln Spenden, damit wir wenigstens ein paar Medikamente bekommen. Du kannst sogar an irgendeiner beliebigen Krankheit sterben, weil du nicht versorgt wirst. Du stirbst im Gefängnis, und die Polizei tut nichts, um dich zu retten.

Was für eine Funktion, glaubst du, hat das Gefängnis?

Die Funktion, das Individuum noch mehr an den Rand der Gesellschaft zu drängen. Innerhalb des Gefängnisses gibt es keinerlei Unterstützung, um dich wieder in die Gesellschaft zu integrieren. Du kommst als Ersttäter ins Gefängnis und wirst sofort mit mit völlig abgebrühten Verbrechern zusammengesteckt. Die öffnen dir dann die Augen, wie es in dieser Welt so abgeht und wie du dich zu verhalten hast. Du bekommst einen neue Prägung aufgedrückt. Du kommst schlimmer raus, als du reingekommen bist.

Warum bist du eigentlich in dieses Leben eingestiegen?

Vor acht Jahren hatte ich genauso wenig Chancen wie heute. Ich bin auf der Straße aufgewachsen und wurde hin und her geschoben. Die Möglichkeit, wie andere zur Schule zu gehen, hatte ich nicht. Meine Mutter hatte keine Möglichkeiten, mir zu helfen. Sie konnte sich nur selbst helfen. Meinen Vater kannte ich nicht.

Du bist jetzt acht Tage aus dem Knast raus. Was wirst du jetzt machen?

Ich werde den Weg des Verbrechens weitergehen. Ich werde mich nicht ändern. Diese acht Jahre haben nichts gebracht. Ganz im Gegenteil. Ich bin viel aggressiver als vorher. Ich habe nur böse Gedanken. Und das wird ab jetzt noch schlimmer werden.

Und wie überlebst du jetzt, ohne Geld?

Ich überlebe aufgrund der Bekanntschaften, die ich vor dem Gefängnis hatte. Ich habe Leuten geholfen. Immer, wenn ich Geld hatte, habe ich bestimmte Leute finanziell unterstützt. Diese Leute helfen mir jetzt zu überleben. Bis ich in den Besitz einer Feuerwaffe gelange, in den Kampf zurückkehren kann und mir mein eigenes Geld besorge.

Mit Geld verdienst du mehr Geld. Wenn du Geld hast, hast du Waffen. Hast du Waffen, schließt du Freundschaften und kannst eine Bande bilden. Und mit einer Waffe hört der Geldfluß nicht mehr auf. Mit vier oder fünf bewaffneten Typen kommt das Geld zu dir. Wesentlich besser als mit irgendeiner Arbeit.

Hast du keine Angst, daß du bis an dein Lebensende im Knast sitzen wirst, wenn sie dich wieder schnappen?

Nein, lebend werden die mich nicht schnappen. Ich werde versuchen, mir den Weg freizuschießen, um zu fliehen. Ich töte sie, oder sie mich.