KOMMENTAR
: Moral und Sühne

■ Der Fall Oskar Lafontaine als Katharsis im politischen Drama

Nie war die Stimmung seit der Stunde Null des neuen Deutschland so mies wie heute, nie die politische Klasse der Republik so im Verruf wie derzeit. Während die Linke früher mit ihren Kampagnen gegen die Charaktermasken keine Chance auf eine Massenbasis hatte, kann sich heute fast jeder rechte Idiot des Beifalls gewiß sein, wenn er nur die Politiker als üble Absahner und Privilegienritter schimpft. Das spricht nicht dagegen, daß Politiker nicht zuletzt erst einmal für ihr eigenes Wohlergehen gesorgt haben, sondern es zeigt an, daß nun tatsächlich Handlungsbedarf besteht, soll unsere Parteienoligarchie nicht auf Dauer Schaden nehmen.

Als deshalb der 'Spiegel‘ vor drei Wochen seinen Sonnenkönig Oskar präsentierte, war dies nicht wirklich eine Enthüllungsgeschichte, auch keine Rufmordkampagne, sondern ein Angebot an die Öffentlichkeit, die notwendige moralische Reinwaschung der deutschen Politik durch ein Sühneopfer in die Wege zu leiten. Daß die 'Spiegel‘-Geschichte nicht einfach verpuffte, ist angesichts der wenig spektakulären Fakten nur damit zu erklären, daß das beinhaltete Angebot von Öffentlichkeit und PolitikerkollegInnen begeistert angenommen und als Chance zur Katharsis erkannt wurde. Oskar Lafontaine bot und bietet alle notwendigen Eigenschaften, um von der politischen Klasse des Landes als Sühneopfer angeboten und vom Plebs akzeptiert zu werden.

Um aber wirklich ein Zeichen zu setzen, reicht es natürlich nicht, irgendwelche Hinterbänkler des Doppelverdienstes zu überführen. Selbst die Aufsichtsrats-Tantiemen eines Max Streibl sind nicht dazu angetan, die Volksseele zum Kochen zu bringen. Oskar Lafontaine dagegen ist hinreichend prominent, gehört er doch zu den wenigen Politikern, die in der Lage sind, emotionale Debatten loszutreten. Zudem hat er genügend Chuzpe, seine politische Hinrichtung nicht widerspruchslos über sich ergehen zu lassen, sondern hieraus eine tragende Rolle im Drama zu gestalten. Langsam bewegt die Inszenierung sich auf ihren Höhepunkt zu. Noch sind seine Vasallen im saarländischen Landtag ihm treu ergeben, aber die Unterstützung der Bundespartei bröckelt. Laut Meinungsumfragen nimmt bereits Engholms Sympathiewert durch die Lafontaine-Schlagzeilen ernsthaften Schaden, und die Volkspartei SPD muß endlich an ihre gebeutelte Facharbeiterbasis denken. Kein Zweifel, bundespolitisch wird die Affäre Oskars entscheidender Karriereknick. „Der Junge ist politisch tot, er weiß es nur noch nicht“, orakelt bereits der Spezialist für Abstürze, Hans Apel. Fehlt nur noch ein hübscher Knall, damit auch jeder merkt, daß der Selbstreinigungsprozeß in vollem Gange ist.

So schnell, wie sie begann, wird die Debatte um Diäten, unabhängige Kommissionen, Versorgungsansprüche und PolitikerInnengehälter dann auch wieder beendet sein. Ernsthaft will daran sowieso niemand etwas ändern, genausowenig wie hierzulande das Berufsbeamtentum abgeschafft wird oder Privilegien anderer mächtiger Lobbygruppen gekappt werden. Aber darum geht es in einem Drama ja auch nicht. Es geht um das Gefühl der Läuterung. Und dieses Gefühl kann mit der Demontage Lafontaines vielleicht hergestellt werden. Jürgen Gottschlich