Wie lange zögert die UNO noch?

■ Zwar behält sich UN-Generalsekretär Butros Ghali die Entscheidung über den Einsatz von UN-Truppen in Bosnien vor, doch die Voraus-setzungen dazu wurden immerhin geschaffen: Ab heute könnten ...

Wie lange zögert die UNO noch? Zwar behält sich UN-Generalsekretär Butros Ghali die Entscheidung über den Einsatz von UN-Truppen in Bosnien vor, doch die Voraussetzungen dazu wurden immerhin geschaffen: Ab heute könnten Militärexperten die Sicherung des Flughafens Sarajevo übernehmen.

Greift die UNO in Bosnien- Herzegowina auch militärisch ein? Nach der Resolution 758 des Sicherheitsrates vom Dienstag in New York ist dies nicht mehr ausgeschlossen, denn erstmals wird das Operationsgebiet der UNO-Truppen auf einen Teil Bosniens, auf das Gebiet um den Flughafen Sarajevos, ausgedehnt. Schon heute soll das erste Vorauskommando der UNO- Truppen, 60 „Militärbeobachter“, die den Flughafen inspizieren sollen, in der umkämpften Stadt eintreffen. Und sie sollen darüber wachen, daß alle schweren Waffen und Luftabwehrraketen im Umkreis von 30 km abgezogen werden. Danach erst werden in einer zweiten Phase 1.000 UN-Soldaten den Flughafen sichern, auf dem dann endlich die dringend benötigten Lebensmittel und Medikamente eingeflogen werden sollen.

Der vier Phasen umfassende Plan sieht weiterhin vor, daß die Flughafenanlagen wieder funktionstüchtig gemacht werden, bevor in der vierten Phase die ersten Flugzeuge starten und landen können. Allerdings werde der Plan nur dann umgesetzt, wenn das Abkommen vom letzten Freitag eingehalten werde, hieß es in New York. In einem Abkommen hatten sich die Kriegsparteien auf den Abzug der schweren Waffen verständigt. Doch seither wird heftig gekämpft. Und damit ist die Verwirklichung des UNO-Plans möglicherweise gefährdet. Deshalb hat sich auch Generalsekretär Butros Ghali das letzte Wort für seine Umsetzung vorbehalten.

Die Zeit jedoch drängt. Während der letzten Kämpfe wurde die Wasserversorgung in der Stadt schwer getroffen. Da die etwa noch 150.000 in der Stadt lebenden Menschen die Schutzkeller wegen des Granatenhagels am Montag nur unter höchster Gefahr verlassen konnten — mindestens 20 Menschen wurden getötet und 357 verletzt —, um Wasser zu holen, begannen die bosnischen Milizen mit einer längst geplanten Gegenattacke, die am Abend erfolgreich abgeschlossen wurde. Ihnen gelang es, zwei wichtige Anhöhen, den Berg Trebevic im Süden und die Anhöhe Tus im Norden, zu erobern und damit einen Teil der serbischen Artillerie auszuschalten.

Diese Offensive wurde möglich, weil die Grünen Barette — die Milizen der Muslimanen — nach dem Abzug der letzten Armeekontingente aus der innerhalb der Stadt gelegenen Marschall-Tito-Kaserne nun ihrerseits über schwere Waffen verfügen. Ein zweites Ziel der muslimanischen Offenive ist nach wie vor, den serbischen Belagerungsring um den Stadtteil Dobrinje zu brechen, wo Zehntausende ohne jegliche Versorgung eingeschlossen sind. Weiterhin versuchen die Muslimanen den von Serben gehaltenen Vorort Ilidza zu erobern, durch den die Straße zur Küste führt. Wenn diese Straße gesichert werden könnte, wäre auch die Lebensmittelversorgung für die Bevölkerung wieder möglich.

All diese Kämpfe bedeuten eine große Tragödie für die Menschen in Sarajevo, die Stadt ist in weiten Teilen in Schutt und Asche gelegt, die beiden Bürotürme im Zentrum brennen auf mehreren Etagen lichterloh. Die überall in den Straßen liegenden Leichen werden notdürftig in den Parks verscharrt. Doch noch ist der Geist der Stadt nicht ganz vertrieben. Denn in Sarajevo, der Stadt der vier Religionen und Kulturen, gibt es nur wenige „ethnisch reine“ Familien. Wer eine kroatische Mutter, einen serbischen Vater, eine muslimanische Schwägerin hat, war schon vor dem Krieg gegen den Wahn der nationalistischen Extremisten. Zehntausende hatten ja noch am 5. April für ein friedliches Miteinander demonstriert, obwohl auf die Demonstration geschossen wurde. Immer wieder berichten Einwohner in Telefongesprächen auch jetzt noch von Solidarität. Doch auch von der Grausamkeit der Kämpfer beider Seiten, die gegenüber der Zivilbevölkerung schwere Verbrechen auf sich laden, von gegenseitigem Verrat, von menschlichen Tragödien.

„Wir hoffen auf eine UNO-Aktion. Hier weiß niemand mehr so richtig, wer auf wen schießt. Viele Milizionäre beider Seiten sind außer Kontrolle geraten“, erklärte gestern ein Mitarbeiter von TV Sarajevo am Telefon. „Diese Leute verstehen nur noch die Sprache der Macht. Schickt bewaffnete UNO-Einheiten, zerstört mit Flugzeugen die Artilleriestellungen der Serben in den Bergen und schießt die Flugzeuge der serbischen Luftwaffe ab. Nur diese Sprache verstehen sie.“

Das bosnische Staatspräsidium appellierte ebenfalls an den UNO-Sicherheitsrat, den Beschuß der Stadt unterbinden zu lassen. Doch zu solch einem Schritt will Butros Ghali sich noch nicht entscheiden. Auch wenn er dies sofort täte, dauerte die Durchführung des Vier-Punkte-Plans über 10 Tage. Das Weiße Haus winkte vorerst ab. Der Sprecher Marlin Fitzwater dementierte Berichte, denenzufolge die Flugzeuge der amerikanischen Sechsten Flotte zur Intervention in Bosnien vorgesehen seien. Doch immer noch hoffen bosnische Politiker und Journalisten auf Hilfe. „Und wenn nur Flugzeuge kämen, die Lebensmittel über der Stadt abwerfen würden.“ Und: Die Hilfe dürfe nicht von einem Waffenstillstand abhängig gemacht werden. Erich Rathfelder