Im KZ fielen ihr die eigenen Toten ein

■ Die Madres de la Plaza de Mayo besuchen das KZ Sachsenhausen/ »Die Stimme ist das erste, was man vergißt« Keine Versöhnung mit Verbrechern/ Inbegriff der Menschenrechtsbewegungen/ Heute und morgen Veranstaltungen

Berlin. In Sachsenhausen, beim Besuch des Konzentrationslagers vor den Toren Berlins, fielen ihr wieder die eigenen Toten ein: ihre beiden Söhne, ihr Mann, ihre Tochter, die unter dem Terror der argentinischen Militärdiktatur »verschwunden« sind, genauer: die verschwunden wurden, entführt, ermordet, nie wieder aufgetaucht. »Die Stimme ist das erste, was man vergißt«, sagt Hebe de Bonafini, die Präsidentin der Madres de la Plaza de Mayo, jener Mütter, die sich den Bajonetten der Militärs entgegenstellten und Auskunft über ihre »verschwundenen« Söhne und Töchter einforderten. Und hier, auf dem zum Museum gewordenen KZ, sind die »Verschwundenen« wieder ganz nahe gewesen. »Deshalb hat es mich auch so umgehauen. Ein Sohn von mir ist auch in einem KZ gestorben. Verhungert, angeblich.« Um die Madres, die heute und morgen abend auf Veranstaltungen in West- und Ost-Berlin sprechen werden, ist es ruhig geworden. Als sie vor 15 Jahren das erste Mal die Fotos ihrer Kinder den Bajonetten der Militärdiktatur entgegenstellten, schien dies Wahnsinn, selbstmörderisch. Die Repression

der Militärjunta war auf einem Höhepunkt. Doch die Madres beharrten, trotzten den Angriffen, der Verfolgung, den Morddrohungen, zogen jeden Donnerstag auf die Plaza de Mayo vor dem Regierungspalast, Woche für Woche, mit ihren weißen Kopftüchern, auf denen die Namen der »verschwundenen« Töchter und Söhne gestickt waren. Sie wurden zum Inbegriff der lateinamerikanischen Menschenrechtsbewegungen. Doch als die Generäle 1983 endlich die Regierungsgeschäfte aus der Hand geben mußten, blieb die Organisation der »Madres de la Plaza de Mayo« in der Opposition. Ihr Bestehen auf einer fundamental moralischen Position hatte keinen Platz in der »Realpolitik« des gewählten Präsidenten Alfonsín. Während die Madres immer und immer wieder die »Bestrafung der Schuldigen« forderten, war Versöhnung und Vergessen angesagt, Straffreiheit für die Militärs und Begnadigung der wenigen Verurteilten. Unter Präsident Menem ergeht es der Demokratie im Lande nicht besser, und der Organisation der Madres auch nicht: Viermal ist im letzten Jahr ihr Haus in Buenos Aires von Polizisten »durchsucht«, sprich: verwüstet worden.

Vom Besuch in Sachsenhausen zurück, muß per Telefon Mimi, einer der Madres in Buenos Aires, zu ihrem 80. Geburtstag gratuliert werden. Statt »Happy Birthday«-Smalltalk sprudelt es Neuigkeiten aus der Heimat: 90.000 Obdachlose haben die Überschwemmungen inzwischen schon auf die Straßen getrieben, und die Regierung tut nichts!, dafür strengt Menem jetzt einen Prozeß gegen den bekannten Journalisten Jacobo Timerman an, die Presse soll eingeschüchtert werden, und in dem von der Militärdiktatur gebauten Knast von Caseros ist es zu einer Meuterei gekommen, ausgehend von dem Trakt für Minderjährige, 100 Verletzte soll es gegeben haben, wohl auch Tote — keine Nachrichten, die die Welt erschüttern würden. »Eine Tragödie das alles«, sagt Hebe mit gesenkter Stimme. Es ist ruhig geworden um die Menschenrechtsdiskussionen in Argentinien. Bert Hoffmann

Heute um 19:30 Uhr sprechen Hebe de Bonafini und Evel Petrini von den Madres de la Plaza de Mayo in der Passionskirche am Kreuzberger Marheinekeplatz, morgen um 19:30 Uhr im »Baobab« in Prenzlauer Berg, Winsstraße 53.