Ein Almanach des Lebens

■ »Es waren einmal sieben Simeons« von Herz Frank und Wladimir Eisner im Checkpoint

Es waren einmal... Brutal, gerade und lakonisch wie so viele »Märchen« scheint auch hier die Geschichte: Sieben Brüder zwischen 5 und 21 Jahren aus Irkutsk bilden eine Jazzcombo. Ihre traditionelle, swingorientierte Musik, ihre Jugend, ihr armer, bäuerlicher Hintergrund machen sie in Rußland beliebt und berühmt.

Aber ihre Träume gehen weiter: Sie wollen ins Ausland und dürfen nicht. Im März 1988 kapern sie ein Flugzeug, um nach England zu fliehen. Als die Entführung in Leningrad scheitert, enden sie in der selbstbeschlossenen Katastrophe: sie erschießen sich selbst und gegenseitig, Passagiere werden verletzt, eine Stewardess ermordet, die Mutter auf eigenen Wunsch von ihrem ältesten Sohn hingerichtet.

Auf den ersten Blick eine ebenso tragische wie verständliche Begebenheit. Oder ist da mehr? Die Regisseure Herz Frank und Wladimir Eisner hatten drei Jahre zuvor einen fröhlichen Film über eine musikalische Bauerngroßfamilie gedreht, eben jene Sieben Simeons. Auf der Suche nach Harmonie spiegelten sie die perfekte »Vereinigung von Arbeit und Kunst«. Der Spiegel zerbrach jäh, und die Autoren, selbst Freunde der Familie, versuchten die Splitter aufzusammeln, zu fragen: Wie und warum konnte das geschehen?

Die Realität, die nun in dem neuen, 1989 entstandenen Film zu Tage tritt, ist eine sehr komplexe Struktur aus Psychologie und sozialen Bedingungen, gesellschaftlicher Repression und Lebenskraft. Die teilweise elliptische »Erzählweise« mit ihrer »Da war dann früher auch noch«-Dramaturgie und die manchmal pathetisch-appellative Gesellschaftskritik machen es schwer, allen Zusammenhängen zu folgen, ihre Entwicklung am Ende wirklich zu verstehen.

Bemerkenswert aber die echten Gerichtsszenen, an deren Ende die zwei überlebenden Mitglieder der Familie zu langjährigen Haftstrafen verurteilt werden. Bitterböse auch die Konfrontation von Szenen aus einem propagandistischen Actionfilm über die Überwältigung von Flugzeugentführern und dem realen Einsatz der Eingreiftruppen, die rationellerweise keinen Unterschied zwischen Täter und Opfer machen.

Beklemmend stoßen die vielen Absurditäten des Lebens in der Sowjetunion auf: Nach der Auszeichnung mit dem hohen »Mutterorden der SU« wird der Mutter eine lächerliche Rente zugeteilt, die sie überdies nie erhält. Die elfköpfige Familie bekommt eine Hochhauswohnung, kann keine Landwirtschaft mehr betreiben; keiner hat einen Beruf erlernt, aber es wird ihnen verboten, mit ihrer Musik Geld zu verdienen. Als am Schluß das Flugzeug brennt, löscht niemand, weil trotz Nachfrage keiner den Befehl gibt.

Der zusammengesetzte Spiegel zeigt letztendlich doch nicht, was in den Menschen wirklich vorgegangen ist. Aber jeder einzelne gezeigte Splitter macht den 1990 in Leipzig ausgezeichneten Film zu einem reichen, dichten Almanach des Lebens in der Sowjetunion. aRaa

11.6.-17.6, 21.30 Uhr im »Checkpoint«, Leipziger Straße 55