Der subversive Weg zu anarchischen Strukturen

■ taz-Debatte (Teil 5) »Die Linke und die Innere Sicherheit« aus autonomer Sicht: Die staatlichen Ordnungssysteme müssen platzen wie eine zu eng gewordene Wurstpelle

Die Linke ist nach ihrem Verhältnis zur »inneren Sicherheit« gefragt. Die Fragestellung hat schon etwas Denunziatorisches. Mal wieder sollen die letzten, die noch radikal um eine Alternative zum Kapitalismus kämpfen, mit dem Hinweis auf die bestehenden Widersprüchlichkeiten zur Aufgabe bewegt werden. Dabei ist es nicht die Linke, jedenfalls nicht die autonome Linke, zu der ich mich zähle, die die Widersprüche erzeugt, die ihr als »Verlogenheit« vorgeworfen wird.

Wer innerhalb einer bestehenden Gesellschaftsstruktur, und unter ihren Bedingungen, versucht, die Voraussetzungen für eine andere Gesellschaft zu schaffen, muß sich notwendigerweise ständig in Widersprüchen bewegen. Wenn es Situationen gibt, in denen wir auf staatliche Institutionen — Polizei, Gerichte, Behörden — zurückgreifen müssen, weil uns keine andere Wahl bleibt, dann erkennen wir damit nicht ihre prinzipielle Notwendigkeit an. Es ist eine Frage unseres politischen Geschicks, daß wir damit nicht auch helfen, ihre Notwendigkeit faktisch festzuschreiben.

Vorweg die Frage: Um welche Sicherheit geht es eigentlich, für die angeblich die Polizei unentbehrlich ist? Die Sicherheit der Radfahrerin, nicht von abbiegenden Autos überfahren zu werden, oder die Sicherheit der Autoantenne, von der wütenden Radfahrerin nicht abgeknickt zu werden? Die Sicherheit des Alkis, als Obdachloser im Winter nicht auf der Straße zu erfrieren, oder die Sicherheit des leeren Hauses, nicht von »Unbefugten« genutzt zu werden?

In Diskussionen wie dieser werden Begriffe wie »Sicherheit« oder auch »Gewalt« zum ideologiegetränkten Giftpfeil gegen SystemgegnerInnen. Tatsächlich aber ist das Bedürfnis nach Sicherheit etwas sehr Subjektives: Wodurch sich die eine sicher fühlt, fühlt sich die andere unfrei. Worum es in der Serie geht, ist die Durchsetzbarkeit der gesetzlich erzwungenen Ordnung im Zusammenleben der Menschen und nicht um eine Bestandsaufnahme des subjektiven Schutzbedürfnisses.

Aber der Ausgleich zwischen Einzel- und Gruppeninteressen in einer Gesellschaft muß sich letztlich in der unmittelbaren Auseinandersetzung regulieren und tut das im Grunde auch. Niemand tut oder unterläßt etwas, nur weil es irgendwo auf einem Blatt Papier steht. Stets ist das Verhalten der Menschen untereinander eine Frage der realen Kräfteverhältnisse, und diese sind bestimmt durch ihre Bedürfnisse und Interessen, ihren jeweiligen Bewußtseinsstand und die reale, d.h. physische Macht.

Natürlich fragen auch wir uns nach den Bedingungen dafür, daß solche Selbstregulierungsprozesse nicht noch weiter in die Brutalisierung gesellschaftlicher Verhältnisse führen. Es liegt im linken autonomen Politikverständnis begründet, daß wir keine Überlegungen anstellen, welche Forderungen dazu an den Gesetzgeber zu richten sind, oder sogar mit dem planerischen Blick von oben selbst sozialpolitische Maßnahmen entwerfen. Unsere Perspektive ist immer die aus der Mitte heraus: Wie können wir uns in den sozialen Prozessen, von denen wir ein Teil sind, so verhalten, daß damit eine emanzipatorische Dynamik entfaltet wird? Aber ich kann hier erst mal nur für mich sprechen.

Das Bedürfnis nach Schutz der Menschen in der Öffentlichkeit erkenne ich nicht nur an, ich teile es. Es ist ein schreckliches Gefühl, sich draußen nicht frei und ohne Angst bewegen zu können. Nur — hilft mir da die Polizei? Ich meine, nein. Erstens ist nur ein kleiner Teil dessen, was mich bedroht, auch strafbar. Zweitens kann ich mich auch zum Schutz vor strafbaren Handlungen nur in den seltensten Fällen auf die Polizei verlassen. Es ist eine bekannte Tatsache, daß die Polizei erst auftaucht, wenn's zu spät ist. Ihre Aufgabe ist es sicherzustellen, daß die begangenen Straftaten von den dafür zuständigen Behörden weiterbearbeitet werden können.

Nun möchte ja die staatstragende Linke die Polizei besser organisiert und anders ausgebildet sehen, damit sie ihren sozialpolitischen Aufgaben besser gerecht werden kann. Aber das ist natürlich eine Illusion, denn die wichtigste Voraussetzung dafür wäre die Fähigkeit und Bereitschaft jedes einzelnen Polizisten, als selbstdenkender und eigenverantwortlich handelnder Mensch und nicht als eine an Fäden gezogene Marionette in Erscheinung zu treten. Damit geriete er aber unweigerlich in Konflikt mit seinem gesetzlichen Auftrag. Der nämlich verlangt gerade von ihm, eine Gesetzes-Exekutionsmaschine und nicht mehr zu sein. (Und diese Gesetze, Herr Eschen, sind selbstverständlich nach wie vor die Gesetze der Reichen, die in erster Linie die Bedingungen der Kapitalverwertung schützen, auch wenn die kleinen Leute dem aus Hilflosigkeit und Mangel an Alternative immer noch zustimmen!)

Aus der gegebenen Situation heraus wäre es allerdings auch gar nicht wünschenswert, daß Polizisten ohne Bindung nach eigenem Gutdünken handeln. Wie wir wissen und immer wieder zu spüren bekommen, ist ein großer Teil von ihnen rechtsradikal aus Überzeugung. Deshalb kann ich auch nicht fordern, der Polizei einen Spielraum zum Handeln nach eigenem Ermessen zu gewähren; das würde ins Gegenteil ausschlagen.

Genauso wenig, und aus demselben Grund, fordere ich, die Polizei abzuschaffen. Es hätte katastrophale Folgen, wenn die Ordnungsinstanzen, auf die diese Gesellschaft zugeschnitten ist, von einem Tag auf den anderen wegfallen würden. An Egoismus und Skrupellosigkeit gewöhnt, würde jedeR BürgerIn seine/ ihre Privatinteressen mit dem Faustrecht selbst organisieren. Banden würden ihre Interessengebiete abstecken. Wer Geld hat, könnte in noch extremerer Weise als jetzt seine Sicherheit bzw. die seines Eigentums erkaufen. Die Schwachen, Isolierten gingen dabei unter.

Aus solch einer Situation heraus ist auch eine »Kiezmiliz« keine Alternative, selbst wenn sie sich anderen Prinzipien verpflichtet fühlt. Zwischen Bürgerwehr und Kiezmiliz ist kein großer Unterschied. Beide glauben, zum Handeln stellvertretend für andere autorisiert zu sein. Sie ziehen Verantwortung auf sich, und damit von den anderen ab. Insofern unterscheiden sie sich nicht von der staatlichen Polizei.

Also verschwenden wir unsere Energien nicht darauf, eine andere Polizei zu planen, gleichgültig ob sie nun in staatlichem oder in revolutionärem Auftrag steht. Schaffen wir die Polizei dadurch ab, daß wir sie Stück für Stück überflüssig machen, in einem langsamen, wohlüberlegt, aber zielstrebigen Prozeß. Danach bestimmt sich unsere Praxis:

— Wir stellen keine politischen Forderungen an den Herrschaftsapparat, die die Rolle der Polizei legitimieren. Linke, die Verbotsforderungen aufstellen, rechne ich nicht zur Autonomen.

— Unsere Aufforderungen zum Handeln richten sich an die betroffenen Menschen und nicht an die angeblichen VertreterInnen ihrer Interessen.

— Wir delegieren die Verantwortung für unser Handeln an niemanden und verlangen auch von jedem anderen, eigenverantwortlich zu handeln.

— Im Konfliktfall oder in einer Gefahrensituation schöpfen wir erst mal die Möglichkeiten der Selbsthilfe und der gegenseitigen Hilfe aus und fordern sie auch untereinander ein, bevor wir nach den »zuständigen« Instanzen rufen.

— Unseren Anspruch auf Selbstregulation verteidigen wir auch gegenüber Gerichten, Polizei, Ordnungsämtern usw. solange wie möglich als höherrangig.

Natürlich geht es bei den Verhaltensprinzipien nicht nur um eine tendenziell andere Lösung der »Sicherheitsprobleme«. So ist dieser Ansatz weder realisierbar noch zu verstehen. Das Prinzip gegenseitiger Verantwortung ist das Grundelement selbstbestimmter Strukturen in allen gesellschaftlichen Bereichen. Insofern ist die Frage nach der »inneren Sicherheit« nur ein Teilaspekt des Widerstandes gegen Unterdrückung, Fremdbestimmung und staatlichen Machtanspruch überhaupt.

Aber in einer autoritären Gesellschaft ist die Fähigkeit zu verantwortlichem Handeln leider restlos verkümmert. Der Reflex, bei Schwierigkeiten nach Mama und Papa zu rufen, steckt in uns allen tief drin. Und genauso tief steckt die fatale Überzeugung, daß sie letztlich besser wissen, was für uns gut ist.

Das Erlernen von verantwortlichem Handeln hängt von Voraussetzungen ab, die für jede Verhaltensänderung gilt: Sie muß als notwendig erkannt werden und sie muß möglich sein. Notwendigkeit heißt, daß es niemanden gibt, der oder die mir das Handeln noch abnimmt. Daher müssen gesetzesfreie Räume und ungeregelte Bereiche als Chance und nicht als Bedrohung betrachtet werden. Möglichkeit bedeutet, daß der/die einzelne auch subjektiv den Raum für die Entwicklung von Verantwortlichkeit hat. Das ist eine Frage des Selbstvertrauens, das wiederum ist abhängig von dem Vertrauen, das wir uns gegenseitig gewähren. Und darin sehe ich die Bedeutung kollektiver Strukturen, daß ihre Mitglieder aufgrund gegenseitiger Abhängigkeit zum Vertrauen zueinander letztlich gezwungen sind.

Um es zusammenzufassen: ich spreche mich aus für die subversive Entwicklung anarchischer Strukturen aus der eigenen alltäglichen Praxis heraus. Die staatlichen Ordnungssysteme werden nicht abgeschafft, sondern sie werden durch den Druck von innen einfach platzen wie eine zu eng gewordene Wurstpelle.

Interessanterweise spekulieren auch die SicherheitsstrategInnen, die die Rolle der Polizei eher noch ausbauen wollen, letztlich auf die gegenseitige Verantwortung der Bevölkerung und nicht auf das Auge des Gesetzes: Halina Bendkowskis Vorschlag, mehr Würstchenbuden in der U-Bahn, unterstellt doch, daß die Würstchenverkäuferin oder ihre KundInnen in einer Gefahrensituation eingreifen würden. Auch der größte Teil der Alarmsysteme funktioniert nach dem Muster, daß die Mitmenschen sich reflexartig als Hilfssheriffs betätigen. Das verkehrt das Prinzip der gegenseitigen Verantwortung in sein Gegenteil: Wir kontrollieren uns gegenseitig nach den Vorgaben der Herrschenden! Nein, darum kann es nicht gehen. Eigene und gegenseitige Verantwortung setzt auch immer das eigene Urteil voraus. Denn schließlich wollen wir ja die Verhältnisse unter uns nicht nur besser regeln, sondern zu anderen Verhältnissen kommen! Imma Harms