'Tempo‘ in Slow Motion

Das Zeitgeistblatt mit neuem Chef: qualitätsvolle Qualität wird zur Qual  ■ Von Ulla Küspert

„Wer vier Wochen MTV gesehen hat, sehnt sich nach einem ruhigeren Film.“ (Michael Jürgs)

Er wolle nun den 'Stern‘ machen, von dem er beim 'Stern‘ immer geträumt und geredet habe, vertraute Michael Jürgs (47) — seit April neuer Chefredakteur der Zeitgeist-Zeitschrift 'Tempo‘ — kürzlich dem Werbefachblatt 'Horizont‘ an. Er begreife dies als eine „echte Herausforderung“. „Wenn es so läuft, wie ich es mir vorstelle, denke ich, daß wir übers Jahr rund 200.000 Leute finden müßten, die das Blatt kaufen wollen.“ Dazu müßte Blattmacher Jürgs, vordem mit Klaus Liedtke und Heiner Bremer im Chef-Triumvirat des verblassenden 'Stern‘, allerdings reichlich Tempo vorlegen.

Immerhin fehlen ihm zur Traumauflage knackige 56.000 neue Käufer. Das Blatt des undefinierbaren „Oh-what-a-feeling“-Feelings (Jürgs), seit sechs Jahren im Auflagen-Dauerclinch mit dem ebenfalls in die Jahre gekommenen Zeitgeist- Vorfühler 'Wiener‘, sackte zuletzt binnen Jahresfrist — laut neutraler IVW-Kontrolle — um fast 12 Prozent (annähernd 20.000 Stück) in ein Auflagentief von 144.000. Der Chef des Jahreszeiten-Verlags, Thomas Ganske, hatte deshalb den letzten Chef seines Lieblingsobjekts, Jürgen Fischer, samt Stellvertretern und Art Director von der Kommandobrücke gebeamt. Jürgs' ultimatives 'Tempo‘-Rezept für die Post-Zeitgeist- Ära: „Wir müssen uns anstrengen, Themen zu finden, die die Menschen interessieren. Wir müssen selbst Aktualität schaffen.“ Wow!

Der „radikale Versuch, ein neues, journalistisches Monatsblatt zu machen“ landete jetzt zum zweitenmal gnadenlos am Kiosk. Die „nach subjektivem Empfinden tollsten und schönsten Fotos“ wurden dafür ausgesucht. Ruhiger als „vier Wochen MTV“ ist das neue 'Tempo‘ ganz unbestritten, die Heftaufteilung selbstverständlich klar: vorne und hinten großzügige Optik, dazwischen längere Geschichten und ein Magazinteil. Gutes journalistisches Handwerk. Natürlich. Midlifestyle. Das Tempo der 90er: „Ein bißchen die Welt anhalten“ (Jürgs). Ist denn in dieser Dekade „das Leben ein langer, ruhiger Fluß“ — ästhetisch, aber sozialdemokratisch?

Väter wünschen sich sowas: „Robert, der Hero — die Einsamkeit des Helden (de Niro)“; Waffennarr Dagobert Lindlau weltanschaulich- amüsiert über den Colt (zum 150. Geburtstag); der Lebensraum des 68ers und TV-Yuppie Stefan Aust (gestylter Schneideraum, was sonst); der dauertrinkende Zeichner- Opi Horst Janssen, Party-Rebell der 60er, „drohte nach einem Sturz das Augenlicht zu verlieren. Sein Biograf schildert die Rückkehr ins Leben“ (Leseprobe!), Daddy „Elton John, Biographie eines Verzweifelten“ (sogar richtig viel Geld macht nicht glücklich: 45 Jahre alt, 300 Millionen schwer, aber „die Bühne ist der einzige Ort, an dem ich mich sicher fühle“).

Jutta D.(itfurth) hätschelt das „liebe Luder“ Ute L.(emper) — den geflopten Engel: „Presse? Die ist schlimmer als Saddam Hussein“, Jutta: „In der Garderobe treffen wir auf eine zierliche, erschöpfte Frau mit schmalem, müdem Gesicht“; der altersweise CDU-Paulus Heiner Geißler, wieder mal präsentiert als „unerbittlicher Avantgardist“ — und „Mambomanie“ („es ist der Abend, an dem die berühmten Weißen der Stadt den Salsa für sich neu entdecken“) — als „Szenebericht aus New York“ ist die Latinowelle tatsächlich doch noch an die Gestade der 'Tempo‘-Redaktion in Hamburg-Winterhude geschwappt — warum sagt einem denn auch keiner, daß nur drei Blocks weiter seit Jahr und Tag im heißen Latinotreff „Salsateria“ von Freitag abend bis Montag früh die Hölle los ist? Nur mal als Beispiel. Möglicherweise läuft's mit dem „selbst Aktualität schaffen“ ja nur nicht ganz so, wie sich der 'Tempo‘- Chef das vorstellt.