Berlin droht die „soziale Katastrophe“

■ Im Berliner Osten wird die durchschnittlich hundertprozentige Mieterhöhung zu drastischen Veränderungen im Alltag der sozial Schwachen führen

Die ohnehin schon angespannte soziale Lage im Ostteil der deutschen Hauptstadt wird sich weiter drastisch verschärfen, falls der Schwaetzer- Vorschlag Gesetz werden sollte. Diese Befürchtung äußerten gestern Mitarbeiter des Berliner Mietervereins (BMV), der etwa 50.000 Mitglieder zählt. Bisher hätten die meisten Ostberliner auf Mieterhöhungen „eher apathisch“ reagiert, nach den neuen Verteuerungen sei aber mit „offener Aggression“ zu rechnen, sagte Axel Nünke, Mitarbeiter des Ostberliner Mietervereins, zur taz.

Schätzungsweise die Hälfte der 600.000 Mietparteien im Berliner Osten würden von der Neuregelung „drastisch getroffen“. Diese Mieter müßten ihren Lebenswandel „erheblich einschränken“. Schon jetzt müßten ein Viertel der Ostberliner über 30 Prozent ihres Einkommens für Miete ausgeben. Diese Anzahl wird sich vermutlich noch vergrößern. „Die Mieterhöhungen laufen für die meisten Menschen auf eine Verdoppelung der Mieten hinaus“, erklärte Nünke. „Der Ost-West-Abstand in Berlin wird dadurch noch weiter vergrößert!“ Armin Hentschel, der Sprecher des Berliner Mietervereins, rechnet im Winter 92/93 gar mit einer „sozialen Katastrophe“ in Berlin. „Wenn diese Erhöhungen durchgesetzt werden, führt das zu einem politisch nicht mehr zu bewältigenden Konfliktstoff!“ In Berlin existiert ohnehin ein Wohnraummangel — die meisten Menschen müssen eine Mieterhöhung zähneknirschend hinnehmen, weil es keine billigen Alternativen mehr gibt. Hentschel befürchtet, daß viele Ost-Mieter nach dem 1. Januar 1993 sogar mehr Geld für ihre Wohnung aufbringen müßten als West-Mieter für vergleichbare Unterkünfte in ihrer Stadthälfte. Der Quadratmeterpreis für eine Wohnung in Marzahn könnte schnell bei zehn Mark liegen. „Diese Wohnungen sind qualitätsmäßig allenfalls mit sozialem Wohnungsbau vergleichbar“, meint Hentschel. Dort läge der Quadratmeterpreis aber nur bei 7,50 Mark. Wegen der hohen Arbeitslosigkeit — in manchen Ost-Bezirken liegt die Erwerbslosenquote inzwischen über 30 Prozent — werde die Belastungsgrenze jetzt „weit überschritten“.

Am härtesten betroffen werden nach Schätzung des Mietervereins alleinstehene Arbeitslose, geschiedene Frauen mit Kindern und Rentner sein. In Berlin ist der Anteil von Singles besonders hoch: 46 Prozent der Haushalte im Osten und 48 Prozent der Haushalte im Westen bestehen nur aus einer Person.

Der Protest gegen die Mietpolitik in den neuen Ländern und in Ost-Berlin äußerte sich bisher vor allem an Wahltagen. Ihre besten Ergebnisse holte die PDS vor kurzem in Ostberliner Neubaugebieten — den Gegenden, die von Mieterhöhungen am ehesten betroffen sind. „Wenn dieses Gesetz durchkommt, wird die PDS noch stärker werden“, glaubt Hentschel. Sein Kollege Nünke pflichtet ihm bei: die PDS sei die Partei, die sich am konsequentesten gegen Mieterhöhungen einsetze. Zu einem lauten Protestschrei der Betroffenen kam es bisher nicht. „Viele wissen noch gar nicht, was das für sie bedeutet“, meint Nünke. „Die meisten kommen sowieso erst, wenn sie eine Mieterhöhung im Briefkasten haben.“ Der Stichtag dafür ist der 1.November. Nicht wenige Mieter haben auf bisherige Erhöhungen mit Zahlungsstopp reagiert: „Die sind so sauer, daß sie einfach kein Geld mehr überweisen!“ Dieser Boykott, der inzwischen zu fristloser Kündigung führt, hat im Osten Tradition: In der DDR gab es viele Mieter, die den geringen Betrag irgendwann gar nicht mehr anwiesen. Weil im Osten alles seinen sozialistischen Gang ging, kamen die Mitarbeiter der Kommunalen Wohnungsverwaltungen erst Monate später dahinter — und meckerten ein bißchen. Vor die Tür gesetzt wurde deshalb aber niemand.

Sorgen bereitet Axel Nünke auch, daß die Bezirksämter auf die Flut von Wohngeldanträgen nicht vorbereitet sein werden. „Die meisten Anträge werden von ABM-Kräften bearbeitet. Deren Verträge laufen aber bald aus.“ Vermutlich wird sich die Bearbeitungszeit deshalb verlängern. Bis zu einem Dreivierteljahr müßten Betroffene dann auf ihr Geld warten, obwohl die Mieterhöhung längst in Kraft wäre. C.C. Malzahn, Berlin