USA - the hangman society?

■ betr.: "US-Justiz riskiert Hinrichtung eines Unschuldigend" von M. Sprengel, "Ein ruhiger angenehmer Tod" und "Exekution als Exorzismus" von Andrea Böhm, taz vom 20.5.92

„US-Justiz riskiert Hinrichtung eines Unschuldigen“ von M.Sprengel, „Ein ruhiger angenehmer Tod“ und „Exekution als Exorzismus“ von Andrea Böhm, taz vom 20.5.92

Vielleicht übertrieben, aber dran ist doch etwas. Der Umgang einer Gesellschaft mit ihren Straffälligen (oder auch zu Unrecht Verurteilten) spiegelt etwas wider vom zivilen Charakter ihrer selbst. Dieser Umgang zeigt die innere Stabilität oder aber die Zerrissenheit und Instabilität einer Gesellschaft und ihren zivilen unsozialen Umgang untereinander.

Das zähe Festhalten der USA an der Todesstrafe, gerade in Zeiten wachsender Krisen, zeigt diese innere Zerrissenheit. Einheit ist nur noch Projektion, die negative Bezugspunkte benötigt. Und da sind die mehr oder weniger Straffälligen die besten Objekte. Belegt wird diese Tatsache in den USA gerade auch durch die Zeiten, in denen zivile und soziale Bewegungen (Rechte für die Afro-Amerikaner; gegen den Krieg in Indochina) gesellschaftliches Gewicht bekamen. In deren Folge nämlich war die Abschaffung der Todesstrafe oder zumindest ihre Aussetzung zeitweise praktiziert worden. Daß das Durchsetzungsvermögen dieser Bewegungen nur beschränkt war, zeigt sich aber auch darin, daß weiterhin Todesurteile gefällt wurden, ihr Vollzug aber auf Eis gelegt wurde.

Die Anwendung der Todesstrafe in den USA ist aber nicht nur der Versuch Konservativer in politischen und wirtschaftlich dominierenden Klassen und Schichten, die innere Zerrissenheit durch den Fokus einer moralischen Empörung über die extremsten Auswirkungen zu übertünchen. Offensichtlich hat diese Methode auch eine gesellschaftliche Basis. Dabei muß diese Basis durchaus nicht die gesellschaftliche Mehrheit sein. Der extreme Gegensatz zwischen Arm und Reich, fehlendes Sozialversicherungssystem, die starke innere Zerrissenheit, die Apathie eines beträchtlichen Teils der Bevölkerung bei Wahlen, der ausgeprägte Provinzialismus in den USA — das alles erfordert einen kritischen Umgang mit dem Begriff „öffentliche Meinung“ als Spiegelung der gesellschaftlichen Mehrheit. Dennoch ist es offensichtlich so, daß diejenigen Teile der US-Gesellschaft, die sich nicht in die Apathie zurückgezogen haben, mehrheitlich die Todesstrafe befürworten. In deren Vorstellungswelten sind archaische Momente dominierend, die sie mit anderen Gesellschaften verbindet — bei allen sonstigen Unterschieden: zum Beispiel mit fundamentalistischen Gesellschaften. Es ist wohl schwierig, das iranische Hizb-Allah-Regime zu kritisieren, wenn man selbst archaische Methoden praktiziert.

Die Vorstellungswelt eines Teils der US-Gesellschaft ist geprägt von alttestamentarischen Denkweisen. „Aug um Aug, Zahn um Zahn“, dieses Racheprinzip alter jüdischer Stammesbünde basierte auf dem Prinzip der Blutrache, von gesellschaftlichen Verbindungen also, die noch nicht in der Lage waren, extremste Auswüchse mit dem Augenmaß ziviler und sozialer Kriterien zu behandeln. Archaisch ist eine solche Handlungsweise gerade auch, weil sie meint, sich auf eine Stufe mit denen stellen zu müssen, die bewußt oder im Affekt getötet haben. Im Unterschied zur Blutrache bei Stammesfehden, bei der die Betroffenen zugleich Akteure sind, übernimmt das in den USA der Staat: das Government und die Justice. Somit bekommt dieser archaische Racheakt den Firnis eines zivilstaatlichen Handelns. Er beruft sich also auf eine historische Entwicklung, die aus heutiger Sichtweise dieses Handeln gerade ausschließt.

Noch etwas zur subjektiven Seite des Racheprinzips: Diese Methode, Gleiches mit Gleichem zu vergelten, hat nie zu einem friedlichen und zivilen Umgang mit den Problemen geführt, die die unterschiedlichen und gegensätzlichen Interessen und Lebenslagen der Individuen einer Gesellschaft hervorbringen. Sie hat nur die archaischen Lebensformen fortgesetzt. In diesem Zusammenhang wäre es einmal eine Untersuchung wert, wie hoch die Mordrate in den Gesellschaften ist, die die Todesstrafe praktizieren, gegenüber denen, die sie aufgrund zivilisatorischer Entwicklungen ausgeschlossen haben. Eine gesellschaftliche Sensibilität bezüglich leben und leben lassen kann sich nur dort einigermaßen entwickeln, wo gesellschaftliches Töten als Reaktion auf individuelles Töten ausgeschlossen wird. Oder andersherum: Wenn Töten Strafprinzip staatlichen Handelns ist, gibt es im Bewußtsein vieler gesellschaftlicher Individuen keine Schranke, selbst zu diesem Mittel zu greifen. Affekt, materielle Benachteiligung und gekränkter Narzißmus sind wohl die häufigsten Gründe, die dann zum Töten führen. Eine Spirale ohne Ende.

Wenn die USA eines Tages die Todesstrafe abschaffen werden (oder nach und nach ihre Einzelstaaten), dann wird dies ein wichtiger, wenn auch nicht der einzige, Maßstab sein für eine soziale und zivile Gesellschaft. Die staatliche Androhung und Praktizierung der Todesstrafe trägt nur bei zu einem Klima, in dem die Individuen einer Gesellschaft gezwungen werden, auf ihre alltäglichen Herausforderungen irrational zu reagieren. Dieses Klima hat gewiß Ursachen, die weitergehend sind. Die innere Zerrissenheit einer Gesellschaft kann nicht über die Ächtung der Todesstrafe überwunden werden, aber diese kann bestimmt dazu beitragen, ein moralisch überhitztes Klima abzubauen und Verständigungen zu suchen, um tendenziell das Töten in einer Gesellschaft zu beenden. Sigurd Würges