KOMMENTARE
: Genossen-Moral

■ Lafontaine und die SPD — die Genossen schauen zu

Wohl doch eine Spanne zulang hat die Führungsriege der SPD gebraucht, um sich jetzt mit vorsichtig-dürren Stellungnahmen hinter Oskar Lafontaine zu stellen. Eine Spanne, die über die Zukunft Lafontaines mitentscheidet. In der Zwischenzeit gab sozialdemokratisches Mittelmaß den Ton an. Von lauer Distanzierung bis moralin-gepanzertem Abgesang reichte das Solidaritätsspektrum der Genossen, als es darum ging, die letzte politische Ausnahmeerscheinung in ihren Reihen gegen eine Kampagne zu verteidigen, an der von Beginn an nur eines ins Auge stach: ihr Timing und das Mißverhältnis zwischen der Substanz des Vorwurfs und seiner populistisch-aufgeblähten Verpackung.

Schon der pompöse Gestus der Enthüllung reichte aus, um auf breiter Front das Urteilsvermögen zu stornieren. In einer Zeit, in der politische Klasse und Bevölkerung spektakulär auseinanderdriften, scheint einer desorientierten Politik jeder Anlaß willkommen, der die Kluft notdürftig überbrückt und eine Identität suggeriert, die durch politisches Handeln wiederherzustellen sich die Akteure ohnehin kaum mehr zutrauen. Moral beweisen, indem man dem 'Spiegel‘ sekundiert, nachtreten, um selbst noch mal davonzukommen — beispielhafter läßt sich das künftige Zusammenspiel von Meinungsmache, Stimmungslage und Politik kaum vorführen.

In diesem Kräftefeld tendiert der Spielraum der Politik gegen Null. Im günstigsten Fall noch verbindet sich — wie bei Lafontaine — das Einknicken vor dem Mediendiktat mit ohnehin lange gehegten Ressentiments. Indem er ihr gerade nicht verfiel, markiert Lafontaine wie kein anderer Sozialdemokrat die Selbsttäuschung seiner Partei im Einheitsprozeß. Das haben ihm seine Genossen nicht verziehen — am wenigsten die, die seine Skepsis im Wahljahr mit idyllischeren Perspektiven konterkarierten. Die Demontage Lafontaines als symbolische Bereinigung der Niederlage. Deren Ursachen lassen sich besser — selbstgerechter — verdrängen, wenn der einzige Rechthaber in den eigenen Reihen fällt.

Bei Stolpe überstürzten sich die Ehrenerklärungen, für Lafontaine rührt keiner einen Finger, ohne daß die Halbherzigkeit durchscheint. Man muß sich der Prozessionen nach Saarbrücken erinnern, auf denen ihn die Genossen nach dem Attentat beknieten, die Kandidatur nicht hinzuschmeißen und den Wahlkampf durchzustehen. Erst in dieser Spanne wird deutlich, wie es um die — immer nachdenklich präsentierte — Genossen-Moral bestellt ist. Matthias Geis