London öffnet Heß-Akte

■ Nichts Neues über Hitler-Stellvertreter/ Weitere Dokumente bleiben noch immer unter Verschluß

London (taz) — Die Gesichter der Journalisten, die sich am Mittwoch erwartungsvoll im Londoner Regierungsbüro drängelten, wurden immer länger: Die Sensation, die sie sich von der Veröffentlichung der Dokumente über die „Friedensmission“ des Hitler-Stellvertreters Rudolf Heß vor 51 Jahren erhofft hatten, blieb aus. Heß war am 10. Mai 1941 in einem Messerschmitt-Bomber nach Großbritannien geflogen und mit einem Fallschirm über Schottland abgesprungen. Seitdem ranken sich Gerüchte um diese Episode — unter anderem, daß es sich um einen Doppelgänger gehandelt habe.

Die Briefe, die Heß in britischer Gefangenschaft schrieb, widerlegen das jedoch eindeutig. Darin kommen Details vor, die einem Doppelgänger nicht bekannt sein konnten. Ebensowenig ist die Theorie haltbar, daß Heß im Auftrag Hitlers gehandelt habe. Heß, den die verhörenden Offiziere als „geistig verwirrt“ beschrieben, wollte die britische Regierung zum Frieden unter deutschen Bedingungen bewegen, um seine umstrittene Position in Berlin wieder zu festigen. Als er die Hoffnungslosigkeit seines Unternehmens erkannte, fürchtete er, „einen Narren aus sich gemacht zu haben“, heißt es in den Verhörnotizen. Vor einem Selbstmordversuch im Juni 1941 schrieb Heß einen Abschiedsbrief an Hitler, in dem er seine Überzeugung ausdrückte, daß seine „Mission zwar im Tod enden, am Ende jedoch Früchte tragen“ würde. Der Treppensturz im Gefängnis scheiterte: Heß brach sich lediglich das Bein. Tatsächlich starb Heß erst 1987 im Alter von 93 Jahren durch Selbstmord im Gefängnis Berlin- Spandau.

Verschiedene Fragen bleiben auch nach der Aktenöffnung offen: Warum hat Großbritannien die Dokumente so lange unter Verschluß gehalten, obwohl sie offenbar die offizielle Version bestätigen? Ursprünglich sollten die Papiere sogar erst im Jahr 2017 veröffentlicht werden. Und: Was enthalten die Dokumente, die noch immer nicht freigegeben sind? Außenminister Douglas Hurd erklärte vor dem Unterhaus, daß mindestens eine Akte aus Gründen der „nationalen Sicherheit“ zurückgehalten wird. Historiker gehen davon aus, daß es sich dabei um Verhörprotokolle des Geheimdienstes MI-6 handelt, aus denen hervorgehen könnte, mit welchen Versprechungen Heß nach Großbritannien gelockt wurde. Der MI-6 beabsichtigte einerseits, Hitler durch die „Mission“ seines Stellvertreters zu blamieren, andererseits wollte man von Heß mehr über Hitlers Kriegspläne erfahren. Ralf Sotscheck