Marlene: tot, Zadek: Herzrasen, Lemper: krank, Mattes: probt

Im Berliner Theater des Westens wird heute der „Blaue Engel“ recycelt/ Für die verschnupfte Hauptdarstellerin Ute Lemper springt heute abend Eva Mattes ein  ■ Aus Berlin CC Malzahn

Zehn Tage vor der Premiere erlitt der Regisseur bei einer Probe eine Herzattacke. So ein Pech! Und die Premiere: so was von peinlich. Kürzlich mußte sich die Hauptdarstellerin auch noch wegen einer Stimmbandentzündung von der Bühne verabschieden:was für eine Pleite. Heute abend soll alles wieder gut werden. Nachdem sich die bisherige Hauptdarstellerin des Blauen Engel, Ute Lemper, verschnupft zurückgezogen hat, wird Lola heute abend recycelt: Die erfahrene Rollenwechslerin Eva Mattes spielt mindestens drei Wochen lang die verruchte Kleinstadtkurtisane, und wenn Frau Lemper nicht mehr wiederkommt, übernimmt die Frau, die sogar schon mal Fassbinder verkörperte, den Lola-Part den ganzen Sommer lang.

Böse Zungen behaupten, Zadek habe sich die Inszenierung zum erstenmal in toto angesehen, als er Herzrasen bekam. Fassungslos habe er festgestellt, daß er seinem Kompagnon Jerome Savary, der in Paris mit Cabaret Triumphe feiern konnte, zu lange freie Hand gelassen hatte. Ihm sei schlagartig bewußt geworden, daß vor seinen Augen kein großes Bühnenstück ablaufe, sondern eine belanglose Nummernrevue — behauptet einer, der den Maestro näher kennt. Savary machte ohne Zadek weiter — am Premiereabend buhte das Publikum ganze zehn Minuten lang. Aus Schaden wird man klug: Die 'FAZ‘ meldete gestern, daß Zadek sich für seine neuen Produktionen beim Berliner Ensemble und beim Frankfurter Schauspielhaus ungewöhnlich lange Probezeiten ausbedungen habe. Bis zu einem dreiviertel Jahr lang will er an Goethes Faust und Tschechows Kirschgarten herumbasteln: das wird wieder teuer werden, denn üblich sind nur zwei bis drei Monate.

Die Pressestelle des noblen Theaters, das nur wenige Minuten vom schmuddeligen Bahnhof Zoo entfernt liegt, wird nicht müde zu betonen, daß Frau Lemper an einer verschleppten Erkältung und nicht an Frustration leide. Sie habe sich während der Proben so verausgabt, daß sie jetzt einfach nicht mehr könne. Drei Ärzte hätten ihr dringend geraten, ihre wunden Stimmbänder bis Anfang Juli zu schonen. Als sie vor einer Woche nach mehreren ausgefallenen Vorführungen noch einmal die Bühne betrat, um Lola zu mimen, bewies sie, daß sie kein Hypochonder ist: Sie krächzte grauenvoll. Dennoch ist die plötzliche Erkrankung von Ute Lemper mit einem Bazillus allein nicht zu erklären. Nach der Premiere wurde ihr Auftritt in der Presse so verrissen, daß sich manch anderer Gescholtener auch ohne Erkältung ins Bett gelegt hätte. Am fiesesten war das Boulevardblatt 'BZ‘ zu ihr: „Lemper nackt — Berlin gähnt!“ titelte die Springer-Zeitung. Im Theater des Westens raunen sich nun nicht nur die Statisten zu: Die Lemper kommt nicht mehr zurück. Schon auf dem Empfang nach der Uraufführung ließ sie sich nicht mehr blicken. Der Zeitschrift 'Theater heute‘ verriet sie, das sie eigentlich gar keine Lust mehr habe, in Musicals mitzuspielen.

Die Lemper-Ersatzspielerin Eva Mattes mimte bisher die Guste, eine Rolle, in der sie zwar singen, aber nicht tanzen mußte. Eva Mattes, da waren sich die Herren und Damen der Feuilletons einig, spiele diese Figur hervorragend. Keine Zeitung hatte an ihrem Auftritt herumgemäkelt, viele fragten sich schon am Premierenabend hinter vorgehaltener Hand, ob es nicht besser sei, wenn sie den blauen Engel verkörpere. Das frustrierte Management des Theater des Westens kann deshalb davon ausgehen, daß auf den Rängen heute abend wieder jede Menge Journalisten sitzen werden. Was über die zweite Premiere in den Sonntagsausgaben der Berliner Zeitungen steht, kann man sich jetzt schon zusammenreimen: Die Mattes habe zwar dickere Beine als die Lemper, sehe auch nicht so gut aus, sei aber viel temperamentvoller, habe eine menschlichere Ausstrahlung, kurzum: Frau Mattes ist eine richtige Frau. Frau Lemper gilt hingegen als singender Automat, als durchtriebenes Karriereweib. Langsam bekommt man den Eindruck, daß Ute Lemper spielen kann, wen sie will und was sie will: In Deutschland und seiner Hauptstadt ist diese Frau, die singen, tanzen und schauspielern kann, nicht wohl gelitten. Uter anderem deshalb, weil sie keinen Kotau vor der Journaille macht. Die deutsche Presse, erklärte sie vor kurzem, sei schlimmer als Saddam Hussein. Die umbesetzte Vorführung kann deshalb nur die Stiefmutter aller Blauer Engel-Inszenierungen sein.