■ AUS POLNISCHER SICHT
: Begräbnis eines Ethos

Es ist erstaunlich, in welchem Maße sich die Zeiten und wir uns in ihnen ändern: Die RAF und ein Teil der Revolutionären Zellen wollen nicht mehr für eine Sache kämpfen, weil die Sache verschwunden, die Menschen nicht mehr dieselben und die Methoden unakzeptabel geworden sind. Ein Lech Walesa in Polen macht die nächste Metamorphose durch und wird am heftigsten von seinen früheren Wahlunterstützern angegriffen.

Für das polnische politische Kabarett hat die Welt kein großes Interesse übrig, es geschieht wahrlich Dramatischeres: Die Tschechen und Slowaken wollen nicht mehr miteinander, wobei der Auftrieb zur Sezession von der armen, unterentwickelten Slowakei kommt, die ohne die Unterstützung der böhmischen Brüder bald wirtschaftlich und zivilisatorisch albanisiert wird. Diese Teilung ist eine andere als die jugoslawische: Dort wollten sich demokratischere, wohlhabende kleine Nationen von dem Hegemonen trennen, der ihnen zivilisatorisch und wirtschaftlich nachstand.

Die Polen sind deswegen für die europäische Öffentlichkeit eher langweilig, weil es dort kaum zu einem Bürgerkrieg noch zu einem Zerfall des Staates kommen kann. Während sich die polnische Klasse immer wieder als unreif und zum nationalen Handeln unfähig zeigt, entwickeln sich die grass roots der Wirtschaft erstaunlich gut, was man am eindrucksvollsten in Krakau beobachten kann: Ein halbes Jahr Abwesenheit zwingt zu einem neuen Kennenlernen der Stadt, wo Kunstgalerien, Passagen, Läden, Restaurants auf gutem und sehr gutem Niveau in atemberaubendem Tempo entstehen. Fast niemand interessiert sich für Politik, und es wird nur geschimpft.

Der Umgang mit den Akten der polnischen Stasi hat sich als noch viel schlimmer erwiesen als die deutsche Lösung. Nach fast drei Jahren Ruhe explodierte die Bombe, die nicht nur eine Regierung, sondern ein Ethos endgültig begraben hat: das Ethos der Solidarität. Die beiden neuen verfeindeten Lager sind nicht mehr nach dem Kriterium der Herkunft von der wichtigsten antikommunistischen Bewegung Osteuropas zu unterscheiden — jetzt kämpft Pragmatismus mit Fundamentalismus. Vom Ergebnis dieses politischen Kampfes, in dem Lech Walesa es offensichtlich zum ersten Mal gewagt hat, sich gegen den Klerikalismus zu stellen, hängt es ab, ob die Polen in einer Realität der Gegenwart mitverantwortlich agieren werden können. Wenn es zum Sieg der schwarz-nationalen Fundamentalisten kommen sollte, endet Polen gemeinsam mit der unabhängigen Slowakei und Großserbien im politischen Panoptikum Europas. Piotr Olszowka