Drei Schwestern aus Haworth

■ Ein Stück über die Schwestern Brontä im Berliner „Theater zum Westlichen Stadthirschen“

Ein Frauenstück? Ja, und ein biographisches und ein historisches — aber ein gelungenes. Die Frankfurter Autorin Susanne Schneider inszenierte ihr neues Stück Die Nächte der Schwestern Brontä im Theater zum Westlichen Stadthirschen, einem der bekannten Berliner Off-Theater. Zu Grunde liegt ihm das Leben der Schriftstellerinnen Brontä, zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Ähnlich wie bei Anton Tschechow sind es Schicksalsschwestern, die, in ihr einsames Leben inhaftiert, Angst haben vorm Älterwerden und vom Weggehen träumen. In einem Haus zwischen Moor und Friedhof empfangen sie die Kirchenschüler ihres Vaters und, in der Trostlosigkeit ihrer Tage, schmieden sie Pläne vom Aufbruch ins Arbeiten und Verliebtsein. Sie wollen eine Schule in ihrem Haus eröffnen, und wenn sie zuvor ein Buch veröffentlichen würden, dann kämen viele Schüler. Das Schreiben als Mittel zum Zweck, so pragmatisch beginnt die Laufbahn der Schriftstellerinnen Brontä. Durch das Schreiben entkommen sie der gottverlassenen Gegend, den Hilfspfarrern und dem Warten.

Susanne Schneider vermeidet das Klischee: die Pastorentöchter sind weder Männerhasserinnen noch esoterische Literaturschwärmerinnen. Zu Beginn stehen zwei züchtige englische Jungfern auf der Bühne. Doch während die eine liest, macht die andere einen Kursus in Sachen Zungenkuß: „Halten Sie Ihre Zunge geschmeidig“, heißt der erste Satz des Dramas. In der nächsten Szene tanzt die jüngste Schwester (Ingeborg Losch) am Rande des verwunschenen Moores in bacchantischen Bewegungen. Sie macht — wie Cordelia oder Atropos — eine mythische Nähe der dritten Schwester zum Tod deutlich. Ihr Kleid gibt die Schultern frei und unter dem schweren Rock werden bunt geringelte Strümpfe sichtbar. Die Schwestern sind voneinander grundverschieden und dennoch verbunden durch ihr verhindertes Begehren.

Was sich unter den drei Frauen zwischen Handarbeit und Schreiben im Salon des Pfarrhauses ereignet, ist ein Reigen aus Melancholie, subtilen Verletzungen und einer steten Wiedervereinigung auf dem Grunde ihrer Unerfülltheit. Susanne Schneider stellt weniger die soziale Ausnahmestellung dieser Frauen, die sich durch ihr Schreiben emanzipieren, ins Zentrum des Stückes. Vielmehr fragt sie nach dem Preis und den Defiziten, auf denen dieser Weg der Selbstverwirklichung beruht.

Charlotte (Elisabeth Zündel) ist die rationalste der drei Schwestern und die treibende Kraft hinaus aus dem Lebensstumpfsinn in die Literatur. Doch so forsch und vernünftig sie auch mit ihrem hochgesteckten Haar und der Lesebrille wirkt, sie ist es, der die Inkarnation männlicher Laszivität in der Figur Lord Byrons erscheint. In einer Mischung aus Angstlust begegnet sie dem leibhaftigen Phantom ihres uneingestandenen Verlangens. Martin Schurr zeigt Byron im Kostüm eines schillernd dämonischen Matadors, spielend mit Charlottes Lüsten, sie aufreizend und kommentierend mit männlichem Zynismus: „Dein Kopf ist die Welt, in der ich herrsche.“ Aber Charlotte flüchtet in eine andere, die des Erfolges. In der letzten Szene näht sie an ihrem Hochzeitskleid. Sie hat ihre Geschwister überlebt und wird, als berühmte alte Frau, einen Hilfspfarrer heiraten. Noch einmal erscheint ihr Byron. Müde sagt sie ihm: „Es wird Zeit, vom Traum in den Tag zu reisen.“

Die Spielweise der vier Darsteller ist ebenso nuanciert und präzise wie die dramatische Vorlage. Wie Lichtbilder eines Lebens reihen sich die Szenen aneinander und erzählen eine gegenwärtige Geschichte vom Warten und der Sehnsucht. Was sich in dieser Aufführung mitteilt, ist die männliche Stimme in der Frau und die weibliche im Manne — aufregendes Theater im besten Sinne. Thomas Oberender

Die Nächte der Schwestern Brontä von Susanne Schneider. Regie: Susanne Schneider; Bühne: Urs Hildbrand; mit Ingrid Fink, Ingeborg Losch, Hannes Meier, Martin Schurr, Elisabeth Zündel. Theater zum Westlichen Stadthirschen, nächste Vorstellungen: 18.6. bis 12.7., Do-So 21 Uhr