Vermeidungsstrategien

Gut sortiert, routiniert, etabliert: Das New Jazz Festival in Moers. Ein Bericht  ■ Von Peter Thomé

Ist das New Jazz Festival in Moers nach zwei Jahrzehnten in die Jahre gekommen, oder ich oder Misha Mengelberg und Han Bennink? Bennink spielte schon auf dem allerersten Festival in Moers und war zu jener Zeit einer der Pioniere des europäischen Free Jazz. Damals wie heute experimentiert Han Bennink gerne und weiß dem selbstgebauten Schlagzeug erstaunliche Klänge zu entlocken; er ist ein Spaßmacher, ein Musik-Clown geblieben, der beim Eröffnungskonzert an die Rampe tritt, in der Hand ein hölzerner Zeigestab, auf dem senkrecht geschrieben steht: „Quiet, please!“

Den Schall des dann einsetzenden einhändigen Trommelwirbels, Holz auf Holz, fängt Bennink mit geöffnetem Mund auf, verändert den entstandenen Hohlraum und verschafft sich auf diese Weise eine zweite Klangquelle, die eigene Mundhöhle. Das Publikum johlt und jubelt, es liebt die unerhörten Klänge, das spontane Spektakel eines Han Bennink, wie damals, obwohl die langhaarigen Besucher heute deutlich in der Minderheit sind und mir der Altersdurchschnitt der Zuhörer höher scheint als vor 20 Jahren.

Mehr als je zuvor vermag Han Bennink die hehre Proklamation des freien Spiels der siebziger Jahr einzulösen, die allzu häufig nur mit der Praxis der sicher notwendigen Befreiung aus musikalischen Traditionen und Gewohnheiten einherging und sich oft auch darin erschöpfte. Mit souveräner Leichtigkeit sorgt Bennink für rhythmische Provokationen im niederländischen Instant Composers Pool Octet, das er gemeinsam mit dem Klavierspieler und Komponisten Misha Mengelberg vor 25 Jahren begründete. Beide Musiker haben sich der Nachwuchsförderung verschrieben und haben mit Ernst Reijseger einen international geschätzten Cellisten und mit Michael Moore (cl/sax) ein, leider immer noch unterbewertetes, vielverspechendes Talent zur Seite.

Nur den gestandenen Free-Jazzern des Italian Instable Orchestra gelang es, ein ähnlich dichtes Netz kollektiver Improvisation zu spinnen, ohne die Dynamik der Präsentation aus den Augen zu verlieren.

Genau das passierte dem New Yorker Saxophonisten Ned Rothenberg, der in diesem Jahr „Carte Blanche“ vom künstlerischen Leiter Burkhard Hennen erhielt und sich ein Ensemble speziell für das Festival zusammenstellen konnte. Das von ihm selbst formulierte Ziel, „eine Struktur für den Hauptauftritt zu schaffen“, mißlang völlig, obwohl es bei den allmorgendlichen Auslassungen der Improvisatoren von Speaking In Tongues (so der pfingstliche Name der Ad-Hoc-Band) spontane Berührungen zwischen asiatischem und europäisch/amerikanischem Musikverständnis zustande kamen.

Verständigung über die Improvisation war seit Beginn des Festivals 1972 nicht nur das Credo der Veranstalter und der beteiligten Musiker, sondern auch das Motto der Besucher, die sich nach dem letzten Bühnenauftritt des Abends zwischen ihren Zelten im Stadtpark zu heißen Sessions zusammenfinden, die heute vielleicht etwas strukturierter wirken — zumindest die Trommler einigten sich schneller auf bekannte Muster der afrikanischen oder südamerikanischen Rhythmik.

Diese erklingt auf der Bühne meist nur in der „African Dance Night“, obwohl sich das Festival heute mehr denn je ethnischer Musik öffnet. Das Gesangsquintett Zap Mama greift in ihren a-capella-Darbietungen freudig auf Lieder und Melodien ihrer Heimat Zaire zurück, die South African Jazz Pioneers spielen soliden Township-Jive, das italienische Trio Il Trillo bedient sich der reichen Folklore seines Landes, der schwarze amerikanische Klarinettist Don Byron präsentiert Klezmermusik pur, und ein siebenköpfiges Ensemble von Saiteninstrumentalistinnen aus Japan entführt die Zuhörer in asiatische Klangwelten.

Daß alles seine Grenzen hat, erfährt das Publikum allerdings dann, wenn nach der kalkulierten Zugabe die Künstler sich noch einmal artig verbeugen und hinter ihnen in rasantem Tempo die Instrumente abgeräumt werden. Der Beifall ebbt dann schlagartig ab und mündet keineswegs wie früher in lautstarken Protest. War es etwa keine der Darbietungen wert, sich so zu ereifern, oder ist das die Resignation vor der Allgewalt des Zeitplans der Veranstalter, des Fernsehens oder der Hörfunk- Live-Übertragung? Ein Festival sollte auch seine Publikumslieblinge haben können. Sonst lädt der Veranstalter ein, die Medien bewerten, und das kritische Publikum stimmt mit den Füßen ab!

Doch die Verantwortlichen wiegen sich in der trügerischen Sicherheit der in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegenen Besucherzahlen, bei einer stetig wachsenden Akzeptanz in der Moerser Bürgerschaft, deren Vertreter und Honoratioren voll des Lobes sind und seit zwei Jahren auf dem Presseempfang Grußworte entbieten. Das war auch nicht immer so. Das Moerser Jazzfestival wirkt 1992 routiniert und in seinem ganzen Ablauf etabliert. Die Veranstalter können es sich leisten, einen bisherigen Sponsor aus der Tabakbranche zu verprellen, die AOK spendet dafür einen „Nichtraucherbaum“, das NRW-Umweltministerium finanziert ein Pilotprojekt mit der Aufgabenbeschreibung „Müllvermeidung bei Großveranstaltungen“, und die Toilettenwagen werden erstmalig in Feiertagsschichten entsorgt. Die Einführung von Pfandgeschirr und die Ächtung von Plastikbechern und -gabeln sowie Papptellern sollen nach einer kessen Hochrechnung bis zu achtzig Prozent des sonst anfallenden Mülls vermieden haben.

Auch bei der Musik gibt es Vermeidungsstrategen wie Lester Bowie, der schon nach seinem dritten Stück sagte: „Und nun der letzte Titel“, und als eine Woge der Enttäuschung im Publikum aufbrandete, ironisch lächelnd fortfuhr: „... des jüngst verstorbenen Musikers...“ Er machte dann tatsächlich sehr bald ernst und verschwand nach etwa drei Vierteln der vertraglich vereinbarten Auftrittszeit.

Vermieden hat Zap Mama die Übersetzung eines ihrer afrikanischen Texte „über ein hochnasiges Mädchen“ mit dem Hinweis: „Das wäre zu lang für's TV!“ Vermieden hat auch David Murray bei seinem Tribute to John Carter, Titel aus dem interessanten Spätwerk des vor über einem Jahr gestorbenen Erneuerers der afroamerikanischen Musik zu nehmen. Insgesamt eine Enttäuschung, der Auftritt des Saxophonisten, wäre da nicht das prächtige Solo von Fred Hopkins am Baß gewesen, mit geouteten Plastikbechern hätte man werfen mögen!

Und wer waren nun die Lieblinge des Publikums im Moers des Jahres 1992?

Abgesehen davon, daß mir aus bereits benannten Gründen die Ortung etwas schwer fiel, sagten die einen MC 900 FT Jesus, eine weiße Hip- Hop-Crew mit jazzigem Einschlag aus Texas, die ihre Show auch live über die Bühne bringen kann, mir allerdings zu baßlastig abgemischt schien; die anderen sagten Fred Frith et Que d'la Gueule oder Michel Godards Baron Samedi S'Endimanche.

Sowohl Frith als auch Godard entpuppten sich in den letzten drei Jahren als eine große Bereicherung der Moerser Festivalkultur. In immer unterschiedlichen Formationen und mit jeweils neuen Programmen stellten sie sich dem staunenden Publikum. Der Weltenbürger Fred Frith hatte in halbjähriger Probenarbeit gemeinsam mit 14 Amateurmusikern aus Marseille seine Kompositionen zu Helter Skelter detailliert wiederbearbeitet und den Schülern über seine krummen Takte eine solide rhythmische Basis vermittelt. Der Meister, der den Auftritt anfangs noch dirigierte, stand schließlich unverhohlen lachend daneben und genoß die Früchte seiner Arbeit und die Beifallsstürme der Zuhörer. Der ebenfalls während des Festivals zu sehende 70-Minuten-Film des Franzosen Charles Castella, Street-Wise, dokumentiert dieses vom Arbeits- und Kulturministerium geförderte Projekt und läßt Frith und die jungen Franzosen ausgiebig zu Wort kommen.

Aus Frankreich, genauer gesagt aus Lyon, kommt auch der Tubaspieler Michel Godard. Der schon lange im Grenzbereich zwischen Jazz und Folklore arbeitende Künstler brachte mit Baron Samedi S'Endimanche eine vorwiegend aus Perkussionisten bestehende Gruppe auf die Bühne, die ein von artistischen Einlagen sprühendes Feuerwerk präziser Trommelkunst vorstellte, das von einer in allen Tonlagen virtuos beherrschten Tuba konterkariert wurde. Eine der wenigen gelungenen Synthesen der sonst eher hintereinander vorgestellten Ethno- und Jazzmusik.

Als wieder einmal eine der bunten— Abfallinsel genannten — Container-Batterien im Strom des Musikgeschehens urplötzlich vor mir auftauchte, überlegte ich, in welcher meiner Taschen sich jetzt der Papiermüll befand, nachdem ich eine andere für zu klein erklärt hatte. Vermeintlich gut vorsortiert, belud ich die Papiertonne mit Schwung, als ein kleiner Junge mir ein offenbar aus meiner Papiermülltasche gefallenes Metallkügelchen entgegenhielt.

Verdammt, da war der ausgelutschte Kaugummi drin, dachte ich, während mein Blick gequält von der Bio- über die Restmüll- zur Metalltonne huschte. Da ich auf Anhieb nur den Batterie-Container ausschließen konnte und keiner der Abfallberater zugegen war, beschloß ich kurzerhand eine eigene mobile Restkaugummi-Metall-Papier-Deponie einzurichten, die dann schließlich im archaisch undifferenzierten Berliner Hausmüll landete.