Vom Verfassungskonsens zum Verfassungskonflikt

■ Geben die BrandenburgerInnen ihr Jawort zur Verfassung, wäre dies ein Vertrauensbeweis für den unter Stasi-Verdacht stehenden Stolpe

Was könnten sich die Verfechter einer breiten Verfassungsdiskussion Schöneres wünschen als das sonntägliche Verfassungsreferendum in Brandenburg, in dessen Vorfeld die politische Debatte über Pro und Kontra hohe Wellen schlägt? Schönheitsfehler: Das Referendum ist zwar politisch aufgeladen, doch die Auseinandersetzung entzündet sich weniger an den einzelnen Bestimmungen des Entwurfs, sondern an den spezifischen Konflikten brandenburgischer Parteipolitik. Für Manfred Stolpe etwa, den Ministerpräsidenten unter Stasi-Verdacht, bedeutet die breite Zustimmung am Sonntag ein Vertrauensbeweis. Ein überragendes Ergebnis für die Verfassung würde es den Stolpe-Skeptikern im Lande noch schwerer machen, die zwielichtige Vergangenheit des Ministerpräsidenten weiter zu thematisieren. Der aus dem Amt gedrängte Ex- Fraktionschef der CDU-Fraktion, Peter-Michael Diestel, wiederum wirbt — gegen das Votum seines Landesverbandes — für die Verfassung, damit die Niederlage seines Gegenspielers, des CDU-Landesvorsitzenden, Ulf Fink, noch etwas deutlicher als erwartet ausfällt. Diestel interpretiert die Abstimmung als Gradmesser für die Popularität der Landes-CDU unter Fink. Jede Ja- Stimme — ein Votum gegen den West-Vorsitzenden. Eine breite Zustimmung über die Parteigrenzen hinweg könnte — so läßt Diestel durchblicken — den Startschuß für die von ihm geplante Sammlungsbewegung für die Interessen der Ost- BürgerInnen abgeben. Glaubt man den Meinungsumfragen, haben sich Fink und die CDU mit ihrem Lavieren in Sachen Verfassung weit ins Abseits manövriert. Erst kämpfte die CDU im gemeinsamen Verfassungsausschuß des Landtages zäh für Änderungen in ihrem Sinne, so daß sie am Ende den Entwurf einstimmig annehmen konnte. Dann glaubte Fink, im Zuge seiner Etablierung als CDU- Landeschef ein Signal für eine „klare Oppositionspolitik“ und gegen den Schmusekurs von Diestel setzen zu müssen: Die CDU stimmte im Landtag mit einer denkbar knappen Mehrheit ihrer Abgeordneten gegen den Entwurf und empfahl den BrandenburgerInnen per Parteitagsbeschluß die Ablehnung des Entwurfs. Aus dem Verfassungskonsens wurde ein Verfassungskonflikt.

Seitdem bemühte sich Fink, die BrandenburgerInnen vom problematischen Charakter der zukünftigen Landesverfassung zu überzeugen: Sie verspreche nicht nur, was das Land Brandenburg ohnehin nicht halten könne, sondern stehe mit einzelnen Bestimmungen in direktem Widerspruch zum Grundgesetz. Fink benennt — in der Tat schwer realisierbar — das Recht auf Arbeit und Wohnen, das Akteneinsichtsrecht (Artikel 11) sowie die in Artikel 38 vorgesehene Beschränkung der Wissenschaftsfreiheit im Falle einer Beeinträchtigung von Menschenwürde oder Gefährdung der natürlichen Lebensgrundlagen.

Für die Befürworter der Verfassung hingegen markiert gerade deren sozial-ökologischer Anspruch die Stärken des Entwurfs. Sie sprechen von einem „wegweisenden Modell“. Doch der Hinweis darauf, daß sozialer Anspruch und Wirklichkeit auch nach Inkrafttreten der Verfassung in Brandenburg auseinanderklaffen werden, findet sich im Entwurf selbst: So ist „das Land zwar zur Verwirklichung sozialer Rechte verpflichtet“, doch, wie auch anders, nur „im Rahmen seiner Kräfte“. Für Verfassungspuritaner ist mit relativierten Rechten die Verbindlichkeit einer Verfassung als Ganzes beeinträchtigt, weil sie Rechte einräumt und Erwartungen weckt, ohne die Durchsetzung zu garantieren.

Umstritten sind weiterhin die Selbstverpflichtung des Landes, die Benachteiligung von Frauen ist zu beseitigen sowie das Verbot der Diskriminierung von BürgerInnen wegen ihrer sexuellen Identität — eine Bestimmung, die im Widerspruch zum Strafrechtsparagraphen 175 steht. Die Verfassung enthält auch das Recht auf Verbandsklage sowie das Verbot der Abschiebung von Flüchtlingen in Folterländer.

Das eigentlich Problematische des Entwurfs finden seine Gegner allerdings in den weitreichenden Partizipationsrechten der BürgerInnen, mit denen Fink den repräsentativen Charakter der bundesdeutschen Demokratie beeinträchtigt sieht. Während er mit den plebiszitären Bestimmungen bereits „die andere Republik“ heraufziehen sieht, feiern die Bürgerrechtler bereits die Durchsetzung einer Volksgesetzgebung. Mit entsprechendem Quorum können die BrandenburgerInnen sogar die Auflösung des Landtags erreichen.

Doch auch Finks Gegnerschaft gegen das Plebiszitäre geht nicht soweit, daß er den BrandenburgerInnen empfohlen hätte, gleich der ersten Volksabstimmung am Sonntag fernzubleiben. Lediglich sein Verständnis für abstimmungsunwillige BürgerInnen hat er im Vorfeld immer wieder kundgetan. So könnte er am Ende — bei niedriger Beteiligung— das Referendum doch noch als Teilerfolg werten. Matthias Geis