How to bake a bestseller

■ Alain Corbins Studie über einen Fall volkstümlicher Gewalt

Im Sommer 1870, währed des preußisch- französischen Krieges, wird in einem Dordogne-Dorf ein Adliger von Bauern grausam zu Tode gepeinigt und verbrannt. Wie ein Schwein hätte man ihn braten und verspeisen wollen, hieß es. Der Haß der Bauern auf die Adligen, ihr anti- republikanischer Patriotismus entzündete sich an dem Gerücht, M. de Monéys habe „Es lebe die Republik“ oder sogar „Es lebe Preußen“ gerufen.

Alain Corbin nimmt diesen Vorfall zum Anlaß, sich in die Gefühle der „Akteure“ einzufühlen, „aufmerksam ihre Schreie anzuhören“, „jenen Augenblick des 16.August 1870 nachzuerleben...“, kurz: ein Stück Mentalitätsgeschichte zu betreiben. Er möchte die Genesis von Gerüchten und kollektiver Gewalt studieren. Dafür wir die ganze Artillerie der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung mobilisiert: ein 50 Seiten dicker Fußnotenapparat für den 150 Seiten dünnen Text, breites Auswalzen der sozialen Verhältnisse, des religiösen Benehmens, der politischen Meinungsbildung — kurz: der ganzen Geschichte des 19.Jahrhunderts —, bis endlich „der Schauplatz des Dramas beschrieben ist, sein Umfeld abgesteckt, der Prolog beendet“. Nach hundert Seiten wird endlich das Ereignis aufgetischt: „Das Opfer naht. Es ist 14Uhr, am 16.August 1870, in Hautefaye ist der Markt in vollem Gang.“

Im Unterschied zu Corbins früheren Arbeiten, wie Pesthauch und Blütenduft oder Meereslust, die in der traditionellen Forschung übergangene Themen in ihrer zeitlichen Entwicklung verfolgen, wird im Dorf der Kannibalen ein isolierter Fall nur als Vorwand benutzt, derzeit populäre Themen zu bedienen.

Offensichtlich beruft sich der Autor auf eine Art der Geschichtsschreibung, die Foucault z.B. mit seiner Studie über den Mehrfachmörder Pierre Rivière eingeführt hat. Dessen literarische Gabe, den Fall für sich sprechen zu lassen, besitzt Corbin jedoch nicht, und auch nicht dessen interpretative Kraft, Grundstrukturen aufzudecken. Zwar hatte auch Foucault Überwachen und Strafen mit der Nacherzählung von Damiens grausamer Hinrichtung auf dem Rad eröffnet. Wenn aber Corbin seitenlang das Massaker in all seinen Details schildert, ist es langweilig und geschmacklos. Offensichtlich spekuliert er auf das Gelüst des Lesers für 'BZ‘-artige Horrorgeschichten. Konzeptuelle Tiefe erlangt er so nicht.

Corbin verliert sich in pseudo- wissenschaftlichen Datenangaben, ohne daß fulminante Schlüsse folgen. Interessant ist lediglich seine Auslegung des zeitgenössischen Entsetzens als Zeichen eines Wandels in der Wahrnehmung und Deutung von physischem Schmerz. Diese vollzieht sich in einer Zeit, in der die Medizin in Sachen Anästhesie große Fortschritte macht und die Justiz darauf verzichtet, den Verurteilten als eine Form der Sühne zu foltern.

Corbins (und seines Verlegers) Bestsellerrezept, literarisches „Nacherleben“ mit wissenschaftlicher Kaution zu erkaufen, scheitert. Weder läßt sich Das Dorf der Kannibalen auf die Risiken des literarischen Schreibens ein, noch leistet es originelle historische Arbeit. Als Vorstudie für einen historischen Film oder Roman mag es gelten — vielleicht hat sich schon Patrick Süsskind an die Arbeit gemacht. Béatrice Durand

Alain Corbin: Das Dorf der Kannibalen. Aus dem Französischen von Brigitte Burmeister; Klett-Cotta- Verlag, gebunden, 150Seiten, 38Mark