DIE ANGST DES ZUSCHAUERS VORM UNENTSCHIEDEN Von Mathias Bröckers

Ist es nicht grauenhaft, dieses EM-Gekicke? Es mag etwas riskant sein, zu einem Zeitpunkt über die Langeweile bei der Europameisterschaft vom Leder zu ziehen, wo sich der amtierende Weltmeister gerade zum entscheidenden Spiel gegen die Schotten warmläuft und mit einer rauschenden Vorstellung alle Welt bezaubern könnte — allein, die Angst des Zuschauers vor torlosen Unentschieden ist nach sechs erbärmlichen Spielen längst der bangen Gewißheit gewichen, daß es genau so weitergehen wird: ein Festival der Fehlpässe, eine Gala des Gerangels und Gemenges, eine Supervorstellung in Sachen Sicherheitsfußball und Risikovermeidung.

„Wenn du dich hier nicht für Football interessierst“, so ein in USA lebender Freund, „bist du fast schon so was wie ein Nazi.“ Da hilft es auch nicht, das Desinteresse am wilden Kampf um das Lederei mit Leidenschaft für den europäischen Fußball zu begründen. Soccer ist für den durchschnittlichen US-Amerikaner in etwa so reizvoll wie Synchronschwimmen oder Schnellgehen, es paasiert einfach zu wenig: Querpässe, Klein-Klein-Geschiebe, Rückgaben — und das über quälende 90 Minuten, die am Ende dann noch zu einem Ergebnis führen, das eigentlich gar keines ist: 0:0.

Nun wissen wir zwar, daß das auch durchaus anders aussehen kann und es Fußballspiele gibt, die von der ersten bis zur letzten Minute spannender als jeder Krimi sind — angesichts der laufenden Europameisterschaft allerdings bleibt nur der Schluß: sie spinnen nicht, die Amis, sie haben recht. Spätestens zur WM in Los Angeles in zwei Jahren will die FIFA deshalb die Regeln verändern: Rückpässe zum Torwart sollen künftig nicht mehr erlaubt sein. Eine segensreiche Idee, nur stellt sich die Frage, warum es so lange dauern muß, sie endlich Realität werden zu lassen.

Was fehlt, beim internationalen Fußballverband, ist ein Notstandsgesetz, das den schnellen Eingriff bei Langeweile-Gefahr im Verzuge erlaubt. Spätestens nach dem zweiten Spiel dieser Europameisterschaft wären die veränderten Regeln fällig gewesen — sie hätten uns sechs Stunden überflüssiges, nichtssagendes, sinnloses Gekicke erspart.

Wenn das Rückpaß-Verbot alleine nicht reicht, um Stimmung in die Bude zu bringen, wären weitere Änderungen möglich, etwa die alte Bolzplatz-Regel „Drei Ecken — ein Elfer“ —, würde jede dritte Ecke als Elfmeter geschossen, gäbe es endlich wieder Ergebnisse, die diesen Namen verdienen: 6:4, 8:8, 10:9. Und die Tormänner, die beim derzeitigen Destruktiv-Fußball meist dumm rumstehen, hätten endlich wieder Gelegenheit, sich durch etwas anderes auszuzeichnen als durch dumpfe Abschläge.

Schaut man sich die Ergebnisse früherer Fußball-Meisterschaften an, waren Schützenfeste seinerzeit regelmäßig an der Tagesordnung — man kickte aus Spaß an der Freud und stürmte notfalls mit elf Mann. Je mehr das Ganze zum Geschäft geriet, desto teurer wurde jeder Gegentreffer und um so massiver wurde auf Defensive gesetzt: Erste Kickerpflicht war nicht mehr, Tore zu schießen, sondern möglichst keine zu kassieren.

Die Elite-Kicker von heute haben diese Strategie schon fast zur Perfektion entwickelt — und wenn die Entwicklung so weitergeht, wird sich in Zukunft kein Mensch mehr dafür interessieren. Es sei denn, eine neue Regel schiebt dem Nullsummenspiel endgültig einen Riegel vor.