„Ob man mir glaubt, ist mir egal“

■ Peter-Jürgen Boock über sein überraschendes Geständnis, die Selbstmordnacht in Stammheim, den Mord an Schleyer, Tabu-Themen innerhalb der RAF und den Einfluß von Stasi und BND auf die Flugzeugentführung nach Mogadischu

taz: Herr Boock, Sie haben nach Ihrer Verhaftung im Januar 1981 in Hamburg immer wieder beteuert: Ich bin kein Mörder. Jetzt haben Sie ein spätes zweites Geständnis abgelegt und eingeräumt, daß Sie bei der Entführung von Hanns Martin Schleyer im September 1977 auf dessen vier Begleiter, die damals zu Tode kamen, mitgeschossen haben. Es drängt sich der Verdacht auf, daß Sie sich erst zu einem Zeitpunkt dazu entschlossen haben, als Sie mit dem Rücken zur Wand standen. Schließlich hatten die RAF-Aussteiger aus der DDR Sie als Kronzeugen belastet.

Peter-Jürgen Boock: Nachdem die Aussagen dieser unfreiwilligen Übersiedler aus der DDR öffentlich wurden, hatte ich mir zunächst vorgenommen, in keinem Verfahren mehr auszusagen. Nicht einmal wenn auch gegen mich ein neues Verfahren eingeleitet würde. Ich kam ins Schwanken, als ich sah, daß durch mein Verhalten andere, die in der RAF-Zeit von mir Befehle erhalten und ausgeführt hatten, in neuen Verfahren für Aktionen verurteilt werden könnten, mit denen sie nichts zu schaffen hatten. Das betraf auch Angelika Speitel, gegen die ein neues Ermittlungsverfahren eröffnet worden war. Ich sah die Gefahr, daß sie es nicht verkraftet, wenn sie wegen der Schleyer-Entführung erneut und zu Unrecht zu lebenslanger Haft verurteilt wird. Sie hatte während ihrer 13jährigen Haftstrafe einen Selbstmordversuch knapp überlebt. Den endgültigen Entschluß, umfassend über meine eigenen Tatbeiträge auszusagen, habe ich in der Nacht zum 24. März gefaßt, in der Nacht vor der Zeugenvernehmung im neuen Ermittlungsverfahren gegen Angelika Speitel. Ich sagte mir: Jetzt kannst du nicht länger schweigen. Schließlich waren auch noch eine Reihe anderer Menschen betroffen, etwa das Ehepaar Sternebeck/Friedrich. Betroffen war auch Monika Haas, da ich davon ausgehen mußte, daß außer mir niemand etwas über den Ablauf der »Landshut«-Entführung auszusagen bereit sein würde. Ich dachte mir: Ich kann nicht einfach tatenlos zusehen, wie diese Leute möglicherweise zu lebenslanger Haft für Aktionen verurteilt werden, an denen sie nicht oder nicht in der Weise beteiligt waren, wie es die Bundesanwaltschaft behauptet.

Dieses Argument hätte Ihnen aber schon früher einfallen können. Es sind doch schon eine ganze Reihe von RAF-Mitgliedern — Klar, Mohnhaupt, Wisniewski und andere — wegen einer Beteiligung an der Schleyer-Entführung verurteilt worden.

Diese Urteile hätte ich nicht verhindern können. Die Betroffenen sind, genau wie ich, als Täter beziehungsweise Mittäter zu lebenslangen Strafen verurteilt worden. Aussagen meinerseits hätten diese Urteile nicht abgewendet, zumal sich diese RAF- Mitglieder weiterhin mit dem bewaffneten Kampf identifizierten und jede Aussage zur Sache als Verrat betrachteten.

Dennoch wurde die Glaubwürdigkeit ihrer Aussage nach dem Motto „Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht“ in Frage gestellt.

Was soll ich dazu sagen? Ich habe mich sämtlicher Dinge belastet, derer ich mich belasten kann. Ob mir das nun geglaubt wird, ist mir inzwischen, ehrlich gesagt, egal.

War es für Sie befreiend, die langjährige Überlebenslüge zu revidieren?

Es war auch ein Befreiungsschlag. All die Jahre mit niemandem offen reden zu können war eine extrem ungute Situation. Es wäre aber unehrlich, von mir zu sagen, daß das allein mich dazu bewogen hat, eine Aussage zu machen.

Sie mußten doch auch befürchten, daß die RAF-Gefangenen, die mehrmals Anmerkungen über Ihr „Lügengebäude“ gemacht haben, irgendwann über Ihre Vergangenheit auspacken.

Ein gewisser Druck war da. Aber ich habe nie geglaubt, daß sie das tun würden. Ich habe unterstellt, daß sie kein Interesse haben, bestimmte Vorgänge öffentlich zu erörtern. Das gilt eigentlich bis heute. Nur daß ich jetzt von keiner Seite mehr erpreßbar bin.

Im Januar 1981 wurde ich zusammen mit einer Frau festgenommen, mit der ich zu diesem Zeitpunkt ein Jahr zusammen war. Die Verhaftung dieser Frau ist von der Bundesanwaltschaft erpresserisch gegen mich eingesetzt worden. Ich sagte mir damals: Wenn die versuchen, mich so unter Druck zu setzen, dann zahle ich das ihnen mit gleicher Münze heim. Ich habe ihnen erklärt, wenn sie meine Freundin freilassen, wäre ich bereit auszusagen. Sie haben sie freigelassen, und anschließend habe ich erklärt, nun bin ich nicht mehr bereit auszusagen. Wahrscheinlich würde ich es in der gleichen Situation wieder so machen.

Pastor Albertz hat in einem taz- Interview gesagt, er sei sehr traurig über Ihr Verhalten. Andere, die sich in der Vergangenheit für Sie eingesetzt haben, fühlen sich enttäuscht oder hintergangen.

Ich kann gut verstehen, daß sie in unterschiedlichem Maße enttäuscht sind. Ich habe eigentlich damit gerechnet, daß viele frühere Freunde einfach mit mir brechen. Das ist bisher zu meiner Überraschung nicht geschehen. Die meisten wollen es vor allem genauer erklärt haben. Einige haben deshalb auch ihren Besuch angekündigt. Ich werde versuchen, es ihnen zu erklären. Ob sie es dann verstehen werden, weiß ich natürlich nicht.

Sie wollten mit Ihren Aussagen niemanden persönlich belasten.

Das ist richtig. Ich habe versucht, das zu vermeiden. Der Ausgangspunkt war aber, daß es eine Reihe konkreter Beschuldigungen gegen einzelne gibt, die im Kern einfach nicht stimmen. Wenn für die Bundesanwaltschaft schon namentlich feststand, der und der kann es nur gewesen sein, und ich wußte von einem anderen Ablauf, mußte ich natürlich sagen: Diese Person war es nicht. Wobei damit der Spekulation, wer es unter Ausschluß dieser Person denn sonst gewesen sein könnte, Tür und Tor geöffnet wird. Ich habe die Vernehmungszimmer und Gerichte nie für geeignete Orte gehalten, um die Geschichte der RAF aufzuklären und aufzuarbeiten.

Sie haben sich in Sachen Schleyer selbst belastet. Sie haben zugegeben, bei der Ermordung Jürgen Pontos den Fluchtwagen gefahren zu haben...

... und die davorliegende Schießerei mit zwei Polizeibeamten in Sprendlingen, die bis dato nicht aufgeklärt war, sowie einige Sachen, die danach kamen und mit dem versuchten Attentat auf Alexander Haig zusammenhängen. Auch einen Banküberfall in Zürich, an dem ich beteiligt war. Die Bundesanwaltschaft sagt jetzt im nachhinein, ich habe alles bestätigt, was sie schon immer behauptet habe. Aber das stimmt überhaupt nicht. Die Bundesanwaltschaft hatte mich beschuldigt, Ponto erschossen zu haben. Ich habe immer gesagt, das ist nicht wahr — und das hat sich jetzt auch anhand der Aussagen der Aussteiger aus der DDR bestätigt.

Der RAF-Aussteiger Werner Lotze hat in seinem Prozeß erklärt, um reinen Tisch zu machen, müsse er auch alle anderen Tatbeteiligten nennen.

Das sehe ich nicht so. Jeder muß für sich selbst verarbeiten, aus welchen Beweggründen er was getan hat. Wenn ich mit dem Finger auf jemanden zeige, mache ich es ihm dadurch nicht leichter. Für mich verbietet sich das. Ich weiß, wie lange ich für die Aufarbeitung meiner Geschichte gebraucht habe. Ich denke, daß es für andere, die nichts als ihr ideologisches Gerüst haben, um mit der Haft fertigzuwerden, eher noch schwieriger ist als einfacher. Andere zu beschuldigen ist gewiß kein Weg der Aufarbeitung.

Verschwimmt diese Grenze nicht, wenn die Bundesanwaltschaft behauptet, mit ihrem sogennannten Subtraktionsverfahren könne sie die einzelnen Puzzlesteine so zusammenfügen, daß sie beispielsweise sagen kann, wer die tödlichen Schüsse auf Schleyer abgegeben hat?

Dieses Subtraktionsverfahren ist aus mehreren Gründen unseriös. Dabei werden Widersprüche zwischen den einzelnen durchaus widersprüchlichen Aussagen einfach weggelassen, etwa wer sich wann und wo aufgehalten hat. Nach derselben Methode könnte man auch zu einem ganz anderen Ergebnis kommen. Das Ergebnis ist daher falsch, die Bundesanwaltschaft wird sich meiner Meinung nach irgendwann korrigieren müssen.

Der Schluß der Bundesanwaltschaft, daß Rolf Clemens Wagner Schleyer erschossen haben soll, ist falsch?

Ich werde mich zu Namen oder zu Spekulationen, was nun daran falsch ist, nicht äußern. Damit würde ich genau das machen, was die Bundesanwaltschaft mit der Veröffentlichung dieses und anderer Namen bezweckt hat: mich unter Druck zu setzen, weil ich zur Zeit der einzige bin, der zu bestimmten Vorgängen überhaupt etwas sagt. Ich soll ihnen indirekt Hilfestellung leisten, indem ich sage: Der nicht oder die nicht. Diesen Gefallen tue ich ihnen nicht.

Ihr früherer Anwalt Heinrich Hannover hat gesagt, ihre Aussagen erinnerten ihn an einen künftigen Kronzeugen.

Ich habe inzwischen mit Heinrich Hannover gesprochen. Es ist der Eindruck entstanden, als hätte er Aussagen von mir verhindert. Das ist falsch. Er hat niemals versucht zu beeinflussen, ob ich aussage oder nicht. Das war immer meine Entscheidung. Hannover hat mich immer auf der Grundlage der begrenzten Informationen verteidigt, die er hatte. Ich habe ihm vieles nicht erzählt. Daß er im Fernsehen erklärt hat, er sehe mich auf dem Weg zum Kronzeugen, kann ich nur seiner Erregung über die genannte falsche Darstellung seiner Rolle zuschreiben. Mir gegenüber hat er bedeutet, daß er es so nicht gemeint hat. Wenn ich allerdings jetzt auf das Spiel der Bundesanwaltschaft eingehen und sagen würde, der Name und der Name stimmt oder stimmt nicht, dann würde ich genau dem Vorschub leisten, was Heinrich Hannover befürchtet hat.

Tatsache ist, daß Schleyer am 19.Oktober 1977 im Kofferraum eines Pkws in Mülhausen im Elsaß erschossen aufgefunden wurde. War es aus Ihrer Sicht zwangsläufig, daß die RAF ihn ermorden mußte?

Wenn es damals in der gesamten Gruppe eine Abstimmung gegeben hätte, halte ich es für durchaus möglich, daß eine andere Entscheidung getroffen worden wäre. Wir waren aber kein demokratischer Verein, und eine Abstimmung hat es nicht gegeben. Das Kommando, zu dem auch ich gehört habe, hat entschieden: Nachdem die Stammheimer Gefangenen tot sind, müssen wir Schleyer erschießen.

Als Vergeltung: Auge um Auge, Zahn um Zahn?

Aus meiner subjektiven Sicht: ja. Ich war fassungslos darüber, wie die Schleyer-Entführung ausging. Für mich brach damit die Motivation weiterzumachen zusammen. Ich war zur RAF gestoßen, um die Stammheimer zu befreien. Und die waren nun, nach dem Scheitern unserer Befreiungspläne, tot. Meine Entscheidung, für die Tötung Schleyers zu stimmen, entsprang einem Bedürfnis nach Rache. Ich war nicht so sehr aus ideologischen Gründen in der Gruppe, sondern weil ich Andreas Baader, Gudrun Ensslin und andere kannte, weil sie mir geholfen hatten, aus einem geschlossenen Heim rauszukommen und ich mich ihnen persönlich verpflichtet gefühlt habe.

Demnach haben Sie geglaubt, daß die Gefangenen in Stammheim ermordet worden waren?

Nein. Ich bin davon ausgegangen, daß es Selbstmord war. Ich habe damals allerdings auch geglaubt, der Staat würde sie so oder so umbringen. Wenn nicht in dieser Situation, in der sie aus meiner Sicht durch die Isolationshaft in den Selbstmord getrieben wurden, dann bei einem Hungerstreik oder unter einem anderem Vorwand.

Wenn man Menschen durch Isolationshaft die Hoffnung auf ein menschenwürdiges Leben und die Freiheit so systematisch und vollständig zerstört, ist das ein Hineintreiben in den Selbstmord. Inzwischen ist auch bekannt, daß fast alles in den Zellen in Stammheim abgehört wurde. Ich frage: Warum sind diese Abhörbänder nie — auch nicht für den parlamentarischen Untersuchungsausschuß — freigegeben worden? Ich glaube, daß sich auf diesen Bändern der Beweis dafür finden ließe, daß die Gefängnisleitung und das BKA sehr wohl mitbekommen haben, daß Waffen und Sprengstoff nach Stammheim geschmuggelt wurden.

Ich bin aber schon damals davon ausgegangen, daß die Nacht von Stammheim kein staatlich inszenierter Mord war. Ich wußte, daß die Waffen in sechs oder sieben Transporten reingegangen waren, denn ich hatte sie selbst dafür präpariert. Ich wußte auch, daß in einem Kassiber der Gefangenen an uns stand: „Wenn ihr es nicht schafft, uns endlich rauszuholen, nehmen wir unser Schicksal selber in die Hand.“

Haben die Gefangenen die Gruppe draußen mit einer Selbstmorddrohung unter Druck gesetzt?

Jedenfalls die Privilegierten der Kommandoebene, die darum wußten. Es gab am Anfang zwei Überlegungen: eine Geiselnahme im Gerichtssaal. Zu diesem Zweck wäre dann der Generalbundesanwalt Siegfried Buback vor Gericht geladen worden. Das haben wir den Gefangenen aber aus der Hand genommen und ihnen gesagt, daß wir eine andere Aktion gegen Buback planen. Aber so oder so blieb nur der Selbstmord im Falle eines Scheiterns der Befreiung übrig.

Sind die Todesfälle in Stammheim in der Gruppe später noch einmal diskutiert worden?

Das war ein absolutes Tabu. Außer in Bagdad ist das nie wieder zur Sprache gekommen. Damals sagte eine Frau: „Ihr könnt euch wohl nur vorstellen, daß die Opfer sind. Daß sie bis zum Schluß selbstbestimmt gehandelt haben, scheint ihr gar nicht auf dem Zettel zu haben.“

Diese Äußerung wird Brigitte Mohnhaupt zugeschrieben.

Das sagen Sie, nicht ich.

Ist denn der Mord an Schleyer in der Gruppe noch einmal thematisiert worden?

Nein. Nachdem die Stammheimer tot waren, war fast der gesamte Ablauf des Herbstes als Thema tabuisiert. Dieses Faß aufzumachen hätte bedeutet, daß wir über alle Widersprüche in der Gruppe hätten sprechen müssen. Warum zum Beispiel mit dem Ende der Schleyer-Aktion und dem Tod der Stammheimer schlagartig die Hälfte der Gruppe aussteigen wollte. Es hätte zur Sprache kommen müssen, warum der Vorschlag der Palästinenser, die »Landshut« zu entführen, angenommen worden ist, obwohl sich die Stammheimer zu Flugzeugentführungen schon vorher klar ablehnend geäußert hatten. In der desolaten Situation hätte eine solche Diskussion solche zentrifugalen Kräfte entwickelt, daß die Gruppe darüber auseinandergeflogen wäre.

Die Bundesanwaltschaft erklärt, daß die Schleyer-Entführung fast völlig aufgeklärt sei. In der Frage aber, wie sie in Verbindung steht mit der Flugzeugentführung durch eine palästinensische Gruppe, tappt sie weitgehend im dunklen.

Ich vermute, diese Zusammenhänge sind der Bundesanwaltschaft womöglich klarer als manches andere. Ich glaube nämlich, daß bei dieser Flugzeugentführung mehrere Geheimdienste mitgemischt haben, so daß zu vermuten steht, daß wir die Wahrheit darüber wohl nie erfahren werden. Ich kann mir vieles am Ablauf nur durch eine partielle Kooperation zwischen Stasi und BND erklären, denn die DDR hatte kein Interesse daran, daß Helmut Schmidt stürzt. Das sind Spekulationen, aber die Autonomie der RAF, auf die wir uns soviel eingebildet haben, war zu großen Teilen Fiktion und Selbstbetrug. Wir sind vermutlich öfter von Geheimdiensten wie die Pfingstochsen am Ring durch die Arena geführt worden. Wie es heute durch Akten einigermaßen belegt ist, hat es in der RAF-Geschichte mindestens vier Informanten der Stasi gegeben. Auch daß die Palästinenser auf einer anderen Ebene von Stasi weit abhängiger waren, hätte uns eigentlich nicht entgehen dürfen.

Anfang der 80er Jahre ist fast die Hälfte der Gruppe ausgestiegen und in die DDR übergesiedelt. Warum sind Sie damals nicht mitgegangen?

Meine Position hat sich deutlich von der der Übersiedler unterschieden. Einmal war ich von den Betroffenen zu dem Zeitpunkt der einzige, der aus dem engeren Kern kam und damit über mehr Hintergrundwissen verfügte. Deshalb wäre es für die Gruppe ein Unterschied gewesen, wenn auch ich gesagt hätte, ich will gehen. Damals war außerdem nicht von einem Asyl in der DDR die Rede, sondern von Angola, Mosambik oder anderen sozialistischen Ländern in der Dritten Welt. Das hätte ich so oder so nicht gewollt, weil es in jedem Fall bedeutet hätte, zu Bedingungen unterzukommen, auf die die RAF den Daumen gehalten hätte.

Und wenn es die Möglichkeit gegeben hätte, in die DDR zu gehen?

Auch das hätte ich nicht gemacht. Dort hätte die RAF indirekt über das Ministerium für Staatssicherheit Einfluß nehmen können. Sie müssen sich die Situation damals vor Augen führen. Als ich mich von der RAF gelöst hatte, initiierte Innenminister Gerhart Baum eine Diskussion unter dem Stichwort „Die Rückkehr ermöglichen“. Als ich 1981 verhaftet wurde, brach kurz darauf die sozialliberale Koalition von Helmut Schmidt, und Helmut Kohl kam an die Macht. Von der Möglichkeit der Rückkehr war fortan nicht mehr die Rede. So bin ich auch hier zwischen die Stühle gerutscht. Mein Wille war, einen solchen Prozeß, wie immer er ausgesehen hätte, anzufangen. In der DDR wäre das nicht gegangen.

Wußten Sie, daß die anderen Gruppenmitglieder in der DDR untergetaucht waren?

Ich habe es am Anfang nicht gewußt. Ab einem bestimmten Zeitpunkt habe ich mir das gedacht.

Hatten Sie Kenntnis von den zuvor geknüpften Kontakten zwischen RAF und Stasi?

Ich wußte, daß die Stasi bei vielen von uns probiert hatte, uns für eine Mitarbeit zu gewinnen. In Bagdad sprach mich beispielsweise mal ein Mann an, der deutlich sichtbar kein Araber war. In breitestem Sächsisch fragte er, ob er mich nicht in einem Hotel treffen könne; er hätte eine interessante Sache zu besprechen. Später habe ich auch von anderen aus der Gruppe erfahren, daß es bei ihnen mehr oder weniger genauso versucht wurde.

Für Linke in der Bundesrepublik war es unverständlich, daß eine Gruppe, die ursprünglich aus dem antiautoritären Milieu kam und eine absolute elitär-avantgardistische Politik verfolgte, mit der DDR zusammenarbeitete.

Elitär-avantgardistisch stimmt schon, antiautoritär waren wir nicht. Ein Teil der Gruppe kam vielmehr aus der alten KPD oder der DKP. Angefangen von Ulrike Meinhof bis zu Werner Hoppe. Viele der RAF-Mitglieder hatten eine Geschichte in oder in der Nähe der DKP.

Haben Sie sich damals erklären können, welches Interesse die Stasi an ihnen hatte?

Das war ziemlich deutlich. Wir haben in den Ländern der Dritten Welt, mit denen wir zu tun hatten, erlebt, daß die Geheimdienste dort von der Stasi im Rahmen ihrer Entwicklungshilfe ausgebildet wurden. Das ist auf der westlichen Seite allerdings keinen Deut anders. Wir wußten um die Ein- und Ausreiseprozeduren in einer Reihe von Ländern, und wir wußten, daß die Security-Leute, mit denen wir zu tun hatten, von der Staatssicherheit ausgebildet und überwacht wurden. Damit sind auch wir indirekt von ihnen überwacht worden.

War für Sie dann nicht auch erstaunlich, daß die DDR RAF-Aussteigern Asyl geboten hat?

Das lief nach dem Motto: Der Feind meines Feindes ist mein Freund. Wir waren in der Bundesrepublik ein Unruhefaktor, und den hätte die Stasi gerne unter Kontrolle gehabt, auch um ihn im Zweifelsfall einsetzen zu können. Die interessante Frage ist, inwieweit sie das sogar getan hat. Bei Mogadischu bin ich mir sicher, aber wir sind wohl auch noch öfter von Geheimdiensten an der langen Leine geführt worden.

Die RAF war Ihrer Meinung nach in ein Netz geheimdienstlicher Interessen eingespannt?

Ich denke, es ist für jede politische Gruppe naiv zu glauben, man sei völlig frei. Wir haben gedacht, dadurch, daß wir die direkten und plumpen Angebote abgelehnt haben, sind wir aus dem Netz raus. Daß das viel feiner gesponnen war und manches plumpe Angebot nur dazu gedacht war, abgelehnt zu werden, damit im Rückschluß etwas anderes in Gang gesetzt werden kann — so sensibel haben wir uns in ihre Art und Weise, Dinge zu lenken, nicht eingefühlt.

Hat der Satz „Der Feind meines Feindes ist mein Freund“ auch für die RAF gegolten?

Nein. An einem Punkt hätte er nahegelegen. Über Palästinenser wurde uns einmal mitgeteilt, daß es Leute aus dem westdeutschen rechtsradikalen Spektrum gibt, die Kontakt zu den Palästinensern gesucht hätten. Die Palästinenser haben sich überlegt, wie sich die funktionalisieren beziehungsweise verheizen ließen. Sie wollten uns an diesen Überlegungen beteiligen. Wir haben es aber abgelehnt, darüber überhaupt nachzudenken.

Wenn es in der Gruppe schon nicht möglich war, zentrale Fragen der RAF-Geschichte zu diskutieren und aufzuarbeiten, wenn die Gerichtssäle ungeeignet sind: Wo ließe sich dann ein Ort finden, an dem dies möglich wäre?

Da ist jetzt der Staat am Zug. Es kann nicht sein, daß in der Öffentlichkeit von Politikern und Strafverfolgungsbehörden der Eindruck erweckt wird, nun könne die Entspannung eingeläutet werden, ohne daß dafür die nötigen Bedingungen geschaffen worden sind. Eine Voraussetzung wäre, daß die RAF-Gefangenen sich nicht nur auf einem Weg auseinandersetzen und diskutieren können, der jederzeit illegalisiert werden kann. Die Isolation muß beendet werden und die Gefangenen zusammengelegt werden, um unüberwacht über ihre Geschichte reden zu können. Die Zusammenlegung ist bis heute nicht erfüllt, und ohne die ist eine weitere Diskussion nicht vorstellbar.

Die RAF hat eine Erklärung verfaßt, in der sie den bewaffneten Kampf zur Disposition stellt.

Die Erklärung ist folgerichtig. Ich halte sie auch für glaubwürdig. Sie wird aber erst mit Inhalt zu füllen sein. Und das ist erst möglich, wenn die Bedingungen geschaffen sind. Insofern komme ich zum selben Schluß: Der Staat ist am Zug.

Weil er in der stärkeren Position ist?

Sicherlich. Er kann die Bedingungen schaffen. Er kann sie aber auch verweigern.

Sind die geplanten vorzeitigen Haftentlassungen, wie jetzt bei Günter Sonnenberg geschehen, nicht auch ein Schritt in diese Richtung?

Man kann die einzelnen Schritte nicht voneinander trennen. Es ist nicht damit getan, einige Leute aus der Haft zu entlassen — was meiner Meinung nach längst überfällig ist. Bernd Rößner ist durch die Isolation krank geworden und seit Jahren haftunfähig. Irmgard Möller sitzt seit 20 Jahren im Trakt, und andere sind bereits über 15 Jahre im Knast. Diese Menschen müssen sofort aus der Haft entlassen werden. Aber das kann nur ein Anfang sein, alle anderen brauchen auch eine Perspektive. Die RAF hat in Aussicht gestellt, daß der bewaffnete Kampf beendet werden kann. Dazu müssen sie aber erst einmal miteinander über die eigene Geschichte, über die Schlußfolgerungen, die sie daraus ziehen wollen, reden können.

Würden Sie dabei mitreden wollen?

Nein. Das müssen sie untereinander klären, das ist nicht mehr meine Sache. Wenn ich etwas dazu beitragen könnte und das auch gewünscht wäre, dann würde ich das tun. Aber meine Geschichte unterscheidet sich von der der anderen zu sehr, als daß sie in der Diskussion eine Rolle spielen kann.

Die RAF-Gefangenen haben genau diese Bedingungen eingeklagt: eine Zusammenlegung, wenn sie schon nicht bald freikommen können, und die Möglichkeit, mit allen gesellschaftlichen Gruppen diskutieren zu können.

Solange das alles unter Strafandrohung steht und sie nur über ihre Anwälte miteinander kommunizieren können und dabei auch noch im Raum schwebt, daß diese Kommunikation in bewährter Weise mit dem Paragraphen 129 a kriminalisiert werden kann, so lange kann man auch nicht von einer offenen Auseinandersetzung reden.

In der RAF-Erklärung findet sich nicht ein Wort der Trauer oder auch der Wut über all die Toten, die die Auseinandersetzung auf beiden Seiten gefordert hat.

Da wird zuviel erwartet. Auf welcher Grundlage hätte das denn in den vergangenen Jahren wachsen sollen? Etwa auf der Grundlage der Konfrontation oder der Haftbedingungen? Die Gefangenen mußten bis heute ihre ganze Kraft darauf verwenden, unter diesen Bedingungen zu existieren und dennoch irgendwie miteinander noch kommunizieren zu können. Wobei es in der beschränkten Kommunikation auch nur um die Veränderung der Bedingungen gehen konnte. Wenn du jemanden in die permanente Abwehr zwingst, halte ich es für unmöglich, eine Diskussion über die Opfer der RAF zu erwarten. Man muß ihnen erst einmal die Möglichkeit zur Reflexion geben.

Erklären Sie so auch, daß Irmgard Möller rückblickend heute noch die Aktionen der RAF als legitim bezeichnet?

Von den Leuten eine Blanko-Kapitulation zu erwarten, ohne daß sie die Möglichkeit hatten, das für sich aufzuarbeiten, hieße, alles über Bord zu werfen, was ihnen bisher das Überleben ermöglicht hat. Ohne irgend etwas als Perspektive dafür zu bekommen. Wenn ich in ihrer Situation wäre, würde ich das auch nicht machen.

Der ehemalige RAF-Kader Klaus Jünschke, der auch unter sehr harten Haftbedingungen gelitten hat, kritisiert scharf, daß die Dimension der Moral oder Schuld schlicht fehlt.

Ich glaube auch nicht, daß die RAF um die Diskussion über die Opfer des bewaffneten Kampfes herumkommt. Das wird Thema werden müssen.

Ist die Tatsache, daß die RAF keine ernsthafte Bedrohung für den Staat darstellt, eine Möglichkeit, daß sich nun eine politische Lösung— im Gegensatz zu rein polizeilichen und strafrechtlichen Strategien — durchsetzen könnte?

Daß führende Leute aus der Wirtschaft in Bonn vorstellig wurden und deutlich gemacht haben, daß sie keine weitere Eskalation und nicht noch mehr Tote wollen, spricht dafür, daß eine polizeiliche Lösung jetzt auch von seiten des Staates nicht mehr ernsthaft für möglich gehalten wird. Solche Stimmen gibt es auch im Sicherheitsapparat. Die Intervention der Wirtschaft hat womöglich eine größere Rolle gespielt, als es manche Politiker heute einräumen wollen. Es ist eine Rationalität in die Sache reingekommen, die aber wenig mit Einsicht zu tun hat. Es hat damit zu tun, daß die wechselseitigen Strategien nicht aufgegangen sind. Was die Verunsicherung des Staates angeht, die der RAF nicht, und was die Vernichtung der RAF angeht, die des Staates nicht.

Sind Sie optimistisch, was die Umsetzung der Kinkel-Initiative angeht?

Optimistisch bin ich nur bedingt. Im Moment hat die Rationalität den Vorrang. Ob das so bleibt, wird davon abhängen, wie der Prozeß jetzt weitergeht und wer politisch wieviel Zugeständnisse machen kann.

Hinter die Aussage, politisch gescheitert zu sein, kann die RAF nun nicht mehr zurück.

Wenn ich vorhin im Zusammenhang mit dem Staat gesagt habe, es war mehr der Zwang der Notwendigkeit als die höhere Einsicht, dann gilt das auch umgekehrt für die RAF. Daß die RAF um das Bekenntnis des Scheiterns ihres eigenen Anspruchs nicht mehr herumkam, haben wohl auch die letzten in der RAF inzwischen zur Kenntnis genommen.

Mit dem früheren Justizminister Kinkel hat sich offenbar die Auffassung durchgesetzt, ohne Gefangene gibt es keine RAF mehr.

Der Satz ist reichlich plakativ. Wenn diejenigen, die personell die RAF darstellen, sich endlich der entscheidenden Frage der RAF stellen— Ist es möglich, diese Gesellschaft mit den Mitteln des bewaffneten Kampfes zu ändern? —, dann ist die meiner Meinung nach seit über zehn Jahren beantwortet. Es geht nicht. Ich verstehe den Text der Erklärung so, daß die Mehrheit in der RAF das inzwischen auch so sieht und sich darüber auseinandersetzen will. Im Ergebnis dieser Auseinandersetzung— wenn sie denn ermöglicht wird— kann nur eine öffentliche Erklärung stehen, in der die Fragestellung, unter der die Gruppe angetreten ist, negativ beantwortet wird und damit zum Ergebnis kommt, daß die Existenz der Gruppe sinnlos geworden ist.

Wer den Prozeß einer Aussöhnung mit der RAF zu Ende führen will, muß auch über Perspektiven für die RAF-Mitglieder nachdenken, die sich jetzt in der Illegalität befinden.

Das bereitet mir Unruhe und Sorge. Dieser Punkt ist bisher auf der politischen Ebene völlig ausgespart worden. In Südamerika oder in Südostasien hat es in manchen Ländern ähnliche Versuche einer politischen Lösung von Konflikten zwischen Staaten und Guerilla-Bewegungen gegeben. Dort wurde dieser Punkt nicht ausgeklammert, sondern es gab eine Art Fahndungsamnestie. Diejenigen, die sich ins Ausland abgesetzt hatten, wurden nicht weiterverfolgt. Eine ähnliche Lösung wird es auch für die RAF-Leute im Untergrund geben müssen.

Sie hatten vor drei Jahren gute Chancen, wie Angelika Speitel von Bundespräsident von Weizsäcker begnadigt zu werden. Statt dessen sind Sie jetzt mit einem Haftbefehl und einem neuen Ermittlungsverfahren konfrontiert.

Es ist eine neue Anklage erhoben worden. Im Moment ist jeder denkbare Weg in die Freiheit für mich blockiert. Ich würde mir wünschen, in absehbarer Zeit zumindest die Perspektive in Richtung offener Vollzug zu haben. Ich möchte gerne studieren.

Sollten die Sekundärverfahren, die von der Bundesanwaltschaft aufgrund der Aussteigeraussagen eingeleitet wurden und die sie bisher noch nicht aufgegeben hat, durchgezogen werden, verschiebt sich die ganze Perspektive auf unbestimmte Zeit. Ich kann den Sinn dieser Zweitverfahren nicht erkennen. Die Leute sind, bis auf eine Ausnahme, schon alle zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Wenn es also nicht nur um eine staatliche Machtdemonstration geht: Worin soll der Sinn dieser Verfahren liegen? Ich kann mir nicht vorstellen, daß einerseits über die Beendigung des bewaffneten Kampfes geredet wird, während andererseits diejenigen, die von ihrem bisherigen Tun ablassen sollen, mit neuen und unsinnigen Verfahren überzogen werden. Der Staat muß sich entscheiden, was er will: Eskalation oder ein Ende der bleiernen Zeit.

Das Gespräch führten Wolfgang Gast und Michael Sontheimer.