Fleisch und Blut in Bild und Ton

■ Anja Teschners Film über das „Blaumeier-Atelier“ wird heute abend in der Schauburg uraufgeführt

Mann mit

weißer Mütze

Ollie F.: Peter Völker

„Blaumeier“ im Videofilm: das wäre ja, als äße man Himbeeren ohne Geschmack, als säße man unter der Sonne, die nicht wärmt. Das wäre ja Leben in die Konserve gesperrt, wären Tränen aus Glyzerin, wäre Glück nur als Abglanz einer fernen Erinnerung. So könnte es sein, wenn das geordnete „Blaumeier“-Chaos im Geviert eines Bildschirms gefangen bleibt. Aber es muß nicht so sein. „Blaumeier“ auf Video ist nicht „Blaumeier“ kastriert. Das beweist Anja Telscher mit ihrem „Blaumeier“-Film, der heute abend in der Schauburg erstmals

öffentlich vorgestellt wird. Und wenn es ein Film verdient hat, in die Geschichte des Filmbüros Bremen einzugehen als der erste, der aus Mitteln der Filmförderung Bremen finanziert worden ist — dann ist das der ihre. Denn bremisch im schönsten, im schrägsten Sinn ist ja das Thema schon, und blaumeierisch authentisch ist auch der Film geworden, der „Blaumeier“ zeigt bei den Theaterproben und beim Auftritt, beim Schminken, bei Lockerungsübungen, im Karneval, beim Malen, auf Reisen, bei einer Preisverleihung. Vor allem aber zeigt dieser Film Gesichter, in großer Ruhe, wie man es im Theater ja nie sehen kann. „Blaumeier“-Gesichter, aus denen die Erinnerung an kasernierte Psychiatrie herauslesen ist; Gesichter, in denen der konzentrierte Ernst plötzlich zum Lachen wird; und immer wieder Ollie als Kapitän, der mit dem Fernglas sinnend ins Weite schaut. Sand, Wasser, Himmel: das sind die Montage- Elemente, mit denen der Film das Überbordende, das Elementare, das Raumgreifende des „Blaumeierischen“ kommentiert — und das Bewegende, das von den „Blaumeier“-Spektakeln ausgeht.

Anja Telscher verzichtet auf jeglichen Kommentar. Und beweist allein schon damit, wie genau sie das „Blaumeier“-Wesen begriffen hat. Denn „Blaumeier“ erklärt sich nur durch sich selbst. „Blaumeier“ sprengt jeden Satz, der dieses Phänomen beschreiben will. Und darum muß man sich „Blaumeier“ überlassen können, sich der Verwirrung überlassen können, der Würde und der Komik, dem huldvoll Melancholischen, das sich in kleinsten Szenen ausdrückt: im kurzen Blick auf eine Frau mit wagenradgroßem Hut, unter dem sie hervorschaut wie der letzte Abkömmling steinalten Adels: „Was hätte mein Urgroßvater, der Herzog, dazu gesagt?“, scheint sie zu denken. Vielleicht aber auch: „Dies Treiben — ich versteh's mal wieder nicht.“ Und dann sieht man plötzlich einen stolzen Vogel an der Rehling eines Schiffes stehen, der sich mit Handtäschchen und Regenschirm empört einer aufdringlichen Scheuerfrau erwehrt.

Wehmütiges Glück, dieser sonderbar gespaltene Zustand, in den die „Blaumeiers“ ihr Publikum versetzen können — dieser Zustand vermittelt sich auch durch Anja Teschners Film. Wer „Blaumeiers“ kennt, erkennt ihre Besonderheit auch auf dem Bildschirm wieder. Wer sie nicht kennt, wird mit den ersten Bildern spüren: das muß etwas Besonderes sein. Mehr als ein „Kunst- und Psychiatrie-Projekt“, in dem „Normale“ und „Verrückte“ zusammen sind, malen, Theater spielen, Masken bauen, und Musik machen. Heut abend aber, in der Schauburg, wird „Blaumeier“ nicht nur in Bild und Ton, sondern in Fleisch und Blut auch da sein.

Sybille Simon-Zülch

Schauburg, 19 Uhr.