Colorierte Fassaden

■ Die »Rattenjagd« von Peter Turrini in der Schiller Theater Werkstatt

Plastikbunt angemalte Fassaden verdecken das eigentlich Wichtige: die Risse, den Schmutz und das Gemeine. Alter und durchlebte Erfahrungen werden genauso übertüncht wie Gerüche und kantige Ecken. Denn »clean« soll alles sein, wie aus einem Hochglanz- Werbeprospekt herausgegriffen. Dieses »Versteckspiel« um Schein und Sein veranlaßte den Werbetexter Peter Turrini Ende der sechziger Jahre, seiner bisherigen Tätigkeit zu entfliehen und sein erstes Theaterstück zu schreiben: Rozznjogd (Rattenjagd). Ein Mann und eine Frau versuchen, sich wirklich kennenzulernen, und entledigen sich aller vom allgemeinen Konsumterror auferlegter Fassaden.

ER fährt SIE zum kurzen, anonymen Liebesspiel an einen unwirtlichen Ort — die Müllhalde der Stadt, auf der die Abfallprodukte der Gesellschaft endgelagert werden und höchstens noch von Ratten verwertet werden können. In der Schiller Theater Werkstatt hat die Bühnenbildnerin Heidrun Schüler eine finstere Grube mit Gummischläuchen und -reifen gefüllt, über der auf einem herausgebrochenen Betonstück das frischbekannte Paar seine Balzrituale beginnt. Dieser Platz in all seiner bildhaften Scheußlichkeit und Verwesung ist vielleicht einer der wahrhaftigsten der nicht weit entfernten angedeuteten Stadt.

Doch zunächst schafft es keiner der beiden, aus seiner überzivilisierten Haut herauszuschlüpfen. Jürgen Elbers spielt IHN mit überzeugender machohafter Penetranz: Dieser Mann fühlt sich nur wohl, wenn er mit dem Schießprügel in der Hand auf die zahlreich vorhandenen Ratten zielen, über sein Stück für Stück selbst zusammengebautes Auto reden und IHR »knallharte« Sprüche an den Kopf werfen kann. SIE dagegen hat Angst: Fern von der vertrauten Welt aus Stützstrümpfen und Make- up fühlt sie sich nicht wohl. Die rüpelhaften Annäherungsversuche ihres Gegenübers sind ihr zu aufdringlich und schnell: Zoe Vostell verleiht ihrer Rolle eine naive Unsicherheit, die SIE hinter kindlichem Trotz verstecken möchte.

Es ist die klassische Rollenverteilung zwischen Mann und Frau, die Turrini uns vorführt, mit all ihrem Gehabe und ihrem festgelegten, anerzogenen Programmablauf. Turrini läßt seine Figuren in ihrer eigenen, sehr drastischen und zeitgemäßen Umgangssprache sprechen (die bei der Uraufführung als skandalös empfunden und als »Fäkalsprache« abqualifiziert wurde), denn: »Den Anspruch auf Unsterblichkeit können sich alle Germanisten, Schöngeister und Germanen aufs metaphysische Butterbrot schmieren. Meine Stücke sind jetzt wichtig und morgen Papier.« Gezeichnet Peter Turrini, 1972.

An der Sprache hat auch Regisseur Florian Kruck im Schiller Theater weiter herumexperimentiert: Solange das buhlende Paar sich hinter verbalen und materiellen Masken versteckt, reden beide mit einer aufgesetzten, fast schon dilettantisch anmutenden Intonation. Nicht nur der Inhalt selbst enthält keine Wahrhaftigkeit, auch die Form entblößt die Sinnentleertheit der gesprochenen Worte.

Aber je mehr sich das Paar ernsthaft kennenlernen will und sich deshalb von gesellschaftlichen Zwängen befreit — sie werfen falsche Haarteile und Zähne, Schminke, Geld und Kleider von sich —, um so mehr entledigen sie sich auch ihrer dissonant klingenden Sprechweise. Am Ende stehen sie völlig nackt da: kein Kleidungsstück, das den ersten Bauchansatz verdeckt, kein BH, der dem Busen seine Idealform verleiht, kein Markenprodukt, das die Risse im Putz kittet. Beide sind sie ganz sie selbst, sind schutzlos und verletzbar in ihrer natürlichen Häßlichkeit: Näher können sie sich nicht mehr kommen.

Aber überleben können sie so auch nicht. Sie sind nicht mehr verwertbar für die jeglichen individuellen Freiheitsdrang unterdrückende Konsumgesellschaft. Selbst zum Abfallprodukt geworden, müssen auch sie »entsorgt« werden.

An diesem Punkt versagt die bis dahin außerordentlich gut gelungene und feinfühlige Inszenierung: Wo sich bei Turrini der Kreis schließt — zwei andere »Rattenjäger« kommen zur Müllhalde und erschießen SIE und IHN als vermeintliche Ratten —, erscheinen in der Fassung von Florian Kruck drei jugendliche Gestalten, die das entblößte Paar kommentarlos niederknüppeln. Ihre buntgefärbten Haare und die kriegsbemalten Gesichter sollen wohl ein ins Extrem gesteigertes Bild von gesellschaftlicher Maskenhaftigkeit abgeben. Aber zu sehr erinnern die drei an Punks, die — als Randgruppe — kaum für die erforderte Metapher herhalten können und zum modischen Accessoire auf der Bühne werden. Und damit neutralisiert sich die Aufführung am Ende selbst. Anja Poschen

Nächste Vorstellungen: 22. und 28.6., jeweils um 20 Uhr in der Schiller Theater Werkstatt, dann erst wieder nach der Sommerpause.