Heldengedenktag für den heiligen Rainer

Die „Laokoon Dance Group“ tanzt den Fassbinder. Nachruf auf „Laokoon“  ■ Von Christian Gampert

Und siehe, der heilige Rainer gab ihnen den Gnadenschuß. Am Ende von Fassbinder, einem Stück der bekannten Choreographin Rosalind Gilmore, gehen die beiden Protagonisten ganz langsam, zeitlupenartig aufeinander zu, so wie damals in ihrer h-Moll-Messe, als sie zu einer surrenden Nähmaschine ein paar Episoden aus dem christlichen und weniger christlichen Menschenleben tanzten. Aber ach, der Witz und die Melancholie von damals sind dahin, die beiden Figuren schreiten weihevoll weiter voran und duellieren sich in einem Magritte-artigen Nirgendwo, und mit ihrem Schuß stirbt nicht nur ein lähmend dilettantischer Gedenkabend für das Vorbild Fassbinder, sondern auch eine einstmals hoffnungsvolle Avantgardegruppe.

Das Drama der „Laokoon Dance Group“ ist, daß sie nicht mehr tanzen will. In der h-Moll-Messe hatte Rosalind Gilmore die Musik von Bach in lauter moderne Bewegungssegmente zerlegt und das Erhabene auf das Banale reduziert: Tanztheater, das lässig gegen die Traditionen des klassischen Balletts anspielte. Aber schon in Rosetta klopft, einer angeblich an Shakespeare angelehnten Lear-Variation, gefiel man sich in symbolsüchtigen Einzelaktionen, die keinerlei Dramaturgie mehr hatten. Das Bühnenbild war bei Bob Wilson abgeschaut, begeistert wühlte man im Psychodreck und erging sich in Brüllorgien — einziger Lichtblick war damals ein bayrischer Musiker, der auf dem Akkordeon mehrere Ländler intonierte; der umnachtete Lear tanzte währenddessen mit einer Tuba Ringelreihn und ließ zum Klimax Töchterlein Rosetta in die Öffnung des Instruments kriechen — viel Blech also.

Daß man das Erzählen verweigert, ist ja in Ordnung. Daß man aber nichts zu erzählen hat und dieses Nichts mit einem Heiligenschein drapiert, das schien mir schon damals schlichter Bluff. Vielleicht war es auch einfach nur der neuen Laokoonismus. Jedenfalls: in der Zwischenzeit ist alles noch viel schlimmer geworden. In Fassbinder, dem neuen Stück, das vier Tage nach der MÜnchner Premiere nun auf den Stuttgarter Tanztheatertagen gezeigt wurde, wird fast überhaupt nicht mehr getanzt. Reaktionär, dieses ganze Ballett. Folgerichtig spielt man Theater, ein Medium, das die beiden Protagonisten Ian Owen und Susan Oswell etwa so gut beherrschen wie eine Schülertheatergruppe mit Deutsch als erster Fremdsprache.

Immerhin hat man sich, Pirandello sei Dank, eine Grundsituation ausgedacht: Zwei Schauspieler warten auf den Regisseur Rainer Werner Fassbinder, der allerdings seit zehn Jahren nicht mehr unter uns weilt, was derzeit Anlaß zu allerlei Aufsätzen und eben auch zu Rosalind Gilmores Stück ist. Mit beinahe religiöser Inbrunst werfen sich die beiden Wartenden, die zufällig Hanni und Franz heißen und also direkt aus dem Wildwechsel kommen, ihrem Gott Fassbinder zu Füßen. In einem schäbigen, sorgfältg in Unordnung gebrachten Fünfziger-Jahre-Zimmer mit Plattentruhe und Giraffenhals- lampen, ihrem Probenraum, spielen sie lauter Szenen aus Fassbinder-Filmen nach, singen von Lili Marleen und sagen so schöne Sätze wie: „Wir sind nichts ohne Ihn. Und Er wird kommen. Ich glaube, Er kommt. Ich höre schon Seine Stimme.“ Es fehlen nur die Weihrauchstäbchen, und der dreifaltige Godot würde im Himmel jubilieren.

Fassbinder, ein geniales böses Kind, hat seine Schauspieler zu Lebzeiten in große Abhängigkeit von sich gebracht — diese demütigende Abrichtung möchte Rosalind Gilmore offenbar kritisieren, und gleichzeitig rutscht ihre Inszenierung in dumpfer Verehrung des Allmächtigen RWF beständig auf den Knien: ein seltsames Unternehmen. Man legt alte Platten auf (Joni Mitchell, lange nicht gehört), dazu gibt es den Neutöner Franz Hummel und den unvermeidlichen Dauerkitschbruder und Fassbinderfreund Peer Raben, Susan Oswell übt Schygulla- Posen, quetscht Töne hervor wie Micky Mouse und will dabei verrucht wirken, während Ian Owen unter anderem eine reaktionäre Schwulenparodie zum besten gibt. Keine einzige Bewegung (die beiden sind Tänzer!) hat eine dramaturgische Funktion, das Mißtrauen gegen die Tanztraditionen läßt „Laokoon“ das ganze Medium, ihr Medium Tanz aufgeben. Schade drum.

Es hat keinen Sinn, hier alle Fassbinder-Filme herunterzubeten, aus denen zitiert wird. Was bleibt, ist die Show zweier einsamer Masturbateure, zwei übriggebliebene, vergessene Bühnenfiguren, die in einer Art sadomasochistischem Wahn auf ihren Herren, Meister, Heiland und Erlöser warten. Über Fassbinder erfährt man dabei so gut wie nichts, und es ist eine Strafe, diesem Treiben zuzusehen. Mich wundert immer, daß ein aufgeklärtes (Szene-) Publikum sowas still leidend über sich ergehen läßt — wenn Peter Hofmann Rock'n'Roll singt, lacht man sich ja auch 'nen Ast.

Das Fassbinder-Unstück von Rosalind Gilmore bedeutet den vorläufigen Abschied der Laokoon-Leute nicht nur von ihren ureigensten tanztheatralischen Mitteln, sondern auch von ihrem kritischen Umgang mit Gesellschaft. Fassbinders aggressiver Unterton fehlt Laokoon völlig: die Aggression ist immer nur behauptet, immer nur dilettierend hingeworkshopt und geradebrecht. Kurz: nur die deutsche Nationalmannschaft unter Jupp Derwall spielte langweiliger.

Als einsamen Act bietet der Tänzer Ian Owen dann noch eine Art finaler Peristaltik. „Hanni bleib da“, bettelt er und windet sich am Boden. Das ist ein treffendes Bild für den Zustand dieses Ensembles: ziemlich am Ende, aber es zuckt noch ein bißchen. Liebe, auch die Liebe zu Fassbinder, ist kälter als der Tod.